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Kultur: Der Mensch stammt vom Vogel ab

Eine Ausstellung über den ewigen „Traum vom Fliegen“ im Haus der Kulturen der Welt

In Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ wirft ein Primat einen Knochen, den er soeben als Werkzeug und Waffe entdeckt hat, schwungvoll in die Luft. Als die Knochenkeule in Zeitlupe wieder abwärtssegelt, gibt es einen Schnitt. Im nächsten Moment sieht man eine Raumstation, die Form und Drehbewegung des Knochens aufnimmt. Filmanalytiker nennen diesen Schnitt, der einen Sprung aus der Vorgeschichte ins 21. Jahrhundert inszeniert, einen Match Cut. Kubricks berühmter Match Cut verwandelt ein denkbar schlichtes Instrument in ein technisches Wunderwerk. Nebenbei suggeriert er, auch das Fliegen sei eine Frage der technischen Mittel.

Für gewöhnlich gilt als ausgemacht, dass der älteste Menschheitstraum im Dezember 1903 Wirklichkeit wurde. Da gelang den Brüdern Wilbur und Orville Wright an der amerikanischen Ostküste der erste gesteuerte Motorflug. Die beiden Ethnologen Britta Heinrich und Thomas Hauschild sind da skeptisch. Als Kuratoren der Ausstellung „Der Traum vom Fliegen“ im Haus der Kulturen der Welt behaupten sie vielmehr: Das war es noch lange nicht. Der Motorflug, erklären sie, sei lediglich eine Flug-Option, das technisch Machbare und das Erträumte lägen noch weit auseinander. Ihr Credo „Alle Menschen können fliegen“ hat folglich nichts mit Easyjet oder Ryanair zu tun. Nichts mit der Welt der globalen Geschäftsmobilität und des Massentourismus. Dafür umso mehr mit höchst realistischen Flugträumen. Mit Bungee Jumping, Tanz, Hexenritten, Schamanismus oder Nahtod-Erfahrungen. Allesamt Situationen, in denen unsere mentale Fähigkeit aktualisiert wird, sich schwebend zu denken und den Raum von oben zu betrachten. „Der Mensch“, meint Hauschild, „ist immer ein Vogelmensch.“

Um die herkömmliche Technikgeschichte des Fliegens, wie sie im Technikmuseum in Kreuzberg erzählt wird, kümmert sich die Ausstellung daher kaum. Wenn trotzdem einige Pioniere der Luft- und Raumfahrt wie Charles Lindbergh, Ferdinand Graf von Zeppelin, Wernher von Braun oder Juri Gagarin Revue passieren, dann gilt das Interesse weniger der Technik der Flüge als ihrem anthropologischen Substrat. Das heißt auch, dass der ausgestellte „Traum vom Fliegen“, wie Bernd Scherer als Intendant des Hauses betont, programmatisch über den westlichen Horizont hinausgeht. Andere Kulturen träumen das Fliegen anders – und nicht unbedingt als technischen Traum.

Immerhin aber ist allen Menschen – im Unterschied zu Tieren – die Fähigkeit gemein, Gegenstände gezielt durch die Luft zu werfen. Das setzt voraus, eine Vorstellung von sich selbst und dem umgebenden Raum aus der Draufsicht zu besitzen, sich Flugerfahrungen realistisch auszumalen. Deswegen finden sich prähistorische Wurfgeschosse unter den Exponaten, die von frühem aerodynamischem Wissen zeugen. Eine Art globale religiöse Erfahrung bilden allerdings schamanistische Praktiken. Schamanen sollen gezielt mit Trommelschlägen und Drogen operiert haben, um das Gleichgewichtsorgan im Innenohr zu irritieren und Flugvorstellungen auszulösen. Auf ein wertvolles Schamanenkostüm aus Sibirien sind die Ausstellungsmacher besonders stolz.

All das verlässt die halbwegs rationalen Gefilde der Neurobiologie und Physiologie, grenzt an Spekulation und Esoterik. Denn derlei Flugerfahrung lassen sich kaum messen. Doch die Ausstellung folgt hier einer Gepflogenheit des kulturellen Gedächtnisses, wonach die Figur des Daedalus, eines pragmatischen Technikers und Flügelbauers, seit Jahrhunderten mit der des Ikarus überblendet wird. Der gerät bekanntlich zu nah an die Sonne, stürzt ab – und steigt auf zum Emblem des Flugwesens sowie künstlerischen Inspirationsquelle. Kunst besetzt hier einen Ort zwischen Technik und Traum. So werden in der Ausstellung auch Sinne verwirrt und Taumel provoziert: sei es durch einen „Traumraum“ für die Ohren oder eine Spezialbrille für die Augen. Selbst ein Aerotrim, ein Gerät zum Astronautentraining, steht bereit.

Das imaginäre Fliegen wäre in Zeiten des Motorflugs mithin eine verschüttete kulturelle „Reserve“. Diese will die Ausstellung mobilisieren. Zum einen lässt sich der Traum vom Fliegen noch immer gegen seine ambivalente Realität halten: Schon bei Kubricks Primaten oszilliert der fliegende Knochen zwischen Werkzeug und Mordwaffe. Auch Fluggeräte nach dem Prinzip „leichter als Luft“ wurden für Aufklärungsflüge zu Kriegszwecken genutzt – selbst wenn sich Heißluftballons und Zeppeline als zu groß, zu träge erwiesen. Doch die Flugzeug- und Raketenentwicklung, die dem Prinzip „schwerer als Luft“ folgt, verdankt ihre Erfolge fast ausschließlich der militärischen Verwertung. Von allen Flugzeugen, die zwischen 1903 und 1945 gebaut wurden, waren 95 Prozent Kampfflugzeuge. Zum anderen muss die Entwicklung des Motorflugs keine Einbahnstraße sein. Wie lange die fossilen Energieträger reichen, um unsere Mobilität in der Luft zu gewährleisten, ist keineswegs klar.

„Eines der gewaltigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts“, schrieb Maxim Gorki 1927, „besteht darin, dass der Mensch, nachdem er über die Erde zu fliegen gelernt hat, sogleich aufhörte, sich darüber zu wundern.“ Ganz kann man ihm nicht zustimmen. Die schrittweise Verwirklichung des Menschenflugs und seine tendenzielle Ent-Poetisierung haben immer Traum-Reste hinterlassen. Dass Superman fliegt, ist kein Zufall – der Mensch will sich noch immer wundern. Der Realitätsgewinn, den der Motorflug bedeutete, wurde offenbar nie mit einem vollständigen Traumverlust erkauft.

Haus der Kulturen der Welt, Foster-Dulles-Allee, 10, bis 8.5.; Mi-Mo 11-19 Uhr.

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