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Kultur: Der neue Klang der Stille

Der Ausspruch "Der Ton macht die Musik" hat mir unter den deutschen Sprichwörtern immer am besten gefallen.Der Satz sagt alles aus, was man über die Beschaffenheit, die Atmosphäre und "das Gefühl" einer Situation wissen muß, auch wenn er die Situation selbst irgendwie vage beläßt.

Der Ausspruch "Der Ton macht die Musik" hat mir unter den deutschen Sprichwörtern immer am besten gefallen.Der Satz sagt alles aus, was man über die Beschaffenheit, die Atmosphäre und "das Gefühl" einer Situation wissen muß, auch wenn er die Situation selbst irgendwie vage beläßt.

Um zur Sache zu kommen: Der Ton der Musik, die ich seit meiner Ankunft in Berlin am 5.Oktober gehört habe, war häufig disharmonisch und schrill.Klänge wie "Moralkeule", "Holocaust-Schauerromantik", "Sündenstolz", "deutsche Selbstkasteiung" sind natürlich nicht neu.Vielmehr sind sie seit vielen Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, die Standardkost im Repertoire der meisten Rechten.Was sich jedoch verändert hat, ist die Größe und Zusammensetzung des Orchesters, das sich vergrößert hat (wohlgemerkt nicht ersetzt wurde).Neue und bekannte Mitspieler sind hinzugekommen, die man vor wenigen Jahren nicht sofort mit dieser Musik assoziiert hätte: Unter den Newcomern befindet sich - als Star - Martin Walser, unterstützt von prominenten Darstellern wie Michael Naumann, Klaus von Dohnanyi und Monika Maron.Daß solche Persönlichkeiten in dieser Art Orchester mitspielen, wäre vor kurzer Zeit schwer vorstellbar und auch wohl nicht erlebbar gewesen - selbst wenn Politik, wie wir wissen, die Kunst des Unmöglichen ist, statt die Wissenschaft des Möglichen, wie sie in Einführungskursen gerühmt wird.Das Leben lehrt uns einiges.

Weit weniger überraschend - doch um so beunruhigender - war für mich, daß sich die Linke, wenn sie diese neuen Stimmen im alten Ensemble hört, total taub stellt.Lange vor den Kompositionen von John Cage wußten Musikliebhaber, daß Stille in der Musik ebenso wichtig ist wie der Klang.Was jedoch dieses Schweigen qualitativ von jenem anderen unterscheidet, ist die Tatsache, daß die Linke in Europas mächtigstem Staat die Regierungsgewalt hat.Und das zu einem geschichtlich herausragenden Zeitpunkt, wo die Bonner Republik sich in ihren Berliner Nachfolger verwandelt und die Fundamente einer bedeutenden europäischen Gemeinschaft gelegt werden.Vielleicht liegt es auch an dieser Ära der fließenden Übergänge, daß wir auf eine beständige Gewißheit bauen können: Die öffentlich zur Schau gestellte Gleichgültigkeit der 68er, oft gepaart mit persönlichem Unwillen, gegenüber der, wie sie meinen, übertriebenen Auseinandersetzung mit der Shoah.Immerhin war dabei amerikanischer Imperialismus kein Thema.Warum sich also aufregen?

Es gibt kaum ein Thema, über das sich die 68er nicht in die Haare geraten sind.Bei einem Thema war das linke Milieu allerdings einer Meinung: bei Israel und den Juden.Was den ersten Punkt anbelangt, ist es überflüssig, länger auf den aktiven und expliziten Anti-Zionismus einzugehen, der die Grundüberzeugung bei jeder Gruppierung neuer Linker, inbegriffen der 68er, war.Ich kann mir kein Gesinnungsbekenntnis vorstellen - nicht einmal die Ablehnung des Kapitalismus -, das so unbestritten war und so gruppenübergreifend akzeptiert wurde wie die Anfeindung Israels.Von der "Frankfurter Rundschau" zu den K-Gruppen, von der IG Metall zu den Spontis: Bei einem breiten Spektrum gehörte der Anti-Zionismus einfach zum allgemein akzeptierten und oft gespielten Repertoire.Diesen allgegenwärtigen Anti-Zionismus rechtfertigte man oft damit, daß er der vielgehaßten deutschen Rechten einen Strich durch die Rechnung machen würde.Denn Freund des israelischen Staates waren das Springer-Imperium und seine neofaschistischen Günstlinge - ein guter Grund für die Linken, dem Land Schaden und vielleicht sogar Zerstörung zu wünschen.Doch da die deutsche Rechte als antisemitisch und als einziger Schuldiger der Shoah galt, war das Verhältnis der 68er zu den Juden sehr viel komplizierter als das zu Israel.Es war offensichtlich politisch inkorrekt, Antisemit zu sein, weil man sich damit zu sehr in die Nähe des verhaßten Feindes, der Rechten, begeben hätte.Daher war die salomonische Lösung, zu schweigen und die Frage im Unklaren zu belassen: Stillschweigen über die Shoah und den gegenwärtigen Antisemitismus und Unklarheit insofern, als der Nationalsozialismus lediglich Faschismus genannt wurde, was in einen "bekenntnishaften, abstrakten Antifaschismus" mutierte, wie es Stefan Reinecke treffend nannte.

Wie ich schon anderswo argumentierte, ist für mich an dieser ganzen Sache am problematischsten die generationsbedingte Gleichgültigkeit, die Regierungsmitglieder gegenüber Fragen des Holocaust, der deutschen Vergangenheit und den Juden öffentlich bezeugen.Sie stellen sich zwar nicht eindeutig hinter Walser, sind nicht antisemitisch oder etwas in der Art.Doch ist ihnen diese ganze Last der Vergangenheit lästig, der gesamte Themenkomplex ist nicht auf ihrem Radarschirm, das Thema ist für sie irrelevant.So kann man Gerhard Schröder nicht in entferntester Weise Antisemitismus vorwerfen.Seine scherzhafte Bemerkung zu einem israelischen Journalisten jedoch, seine frühere anti-israelische Einstelluung als Juso-Vorsitzender müsse als Jugendsünde gesehen werden, war geschmacklos.Wie so oft: der Ton macht die Musik.Problematisch an Schröders Antwort war für mich weniger die Frage, ob auch Politiker wie alle Menschen Jugendsünden begehen.Es war vielmehr Schröders unsensibles Verhalten, das mich störte, die Art, wie er den Journalisten verspottete, überhaupt so eine scheinbar irrelevante und nebensächliche Frage zu stellen.Man spürte den neuen Klang der Stille.

Als hoffnungsloser Optimist, der ich bin, verzweifle ich dennoch nicht und begreife Worte wie die von Schröder als Ausdruck des neuen Zeitgeistes.Ich bin sogar weit entfernt von Verzweiflung: Ermutigt hat mich schon die Tatsache, daß man mich vielfach aufgefordert hat, meine Stimme zusammen mit anderen zu erheben gegen die altmodische, bequeme und populäre Musik des jüngst vergrößerten Orchesters.Denn immerhin hat uns das Jahr 1968 in seinem reichen Erbe einen weiteren lobenswerten Zug hinterlassen: die Streitkultur.Und diese ist nach wie vor lebendig und auch in der beginnenden Berliner Republik präsent, wie sie es auch stets bei ihrem Vorgänger in Bonn war.Laßt uns in diesem Geist den Mißklang fortsetzen - und den Kampf.

Der Autor ist Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.Von ihm erschien zuletzt im Alexander Fest Verlag das Buch "Das deutsche Dilemma: Macht und Machtverzicht in der Berliner Republik".

Aus dem Englischen von Karen Wientgen.

ANDY MARKOVITS

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