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Kultur: Der rote Schrei

Ein Mann sieht rot? Keine Charakterisierung könnte schlechter auf den Künstler passen, der dieses Hahnenbild für eine Ausstellung der deutschen Plakatkunst in Essen als vitales Symbol seiner Zunft schuf.

Ein Mann sieht rot? Keine Charakterisierung könnte schlechter auf den Künstler passen, der dieses Hahnenbild für eine Ausstellung der deutschen Plakatkunst in Essen als vitales Symbol seiner Zunft schuf.Der polnische Plakatkünstler Jan Lenica, seit 12 Jahren in Berlin, ist ein älterer Herr im hellgrauen Sommeranzug, der bei Ehrungen - wie jetzt zum 70.Geburtstag mit einer Retrospektive in der Berliner Festspielgalerie - die Hände auf dem Rücken verschränkt, aufs Linoleum schaut.Sein Hahn aber ist in kräftigen Rotschattierungen filetiert wie das Schaubild eines Frischgeflügelhändlers.In einem früheren Werk - dem Filmplakat zu Fellinis "Casanova" - sitzt ein Truthahnkopf mit rotem Schnabel dem weitausschreitenden, flügelarmigen Titelhelden in den Lenden.Mit starrem weißen Auge hält das Tier im Mann Ausschau nach einem Objekt seiner Begierde.Das Haupt auf Casanovas Schultern ist ein phallischer Auswuchs - das, womit er denkt.Den roten Schnabel zitierte Jan Lenica jetzt noch einmal in seinem Wappentier zur Polnischen Woche in Berlin, zu deren Programm auch seine Ausstellung gehört.Und als einäugigen, amorph umrissenen roten Schrei mit weißen Zähnen zeigte Lenica seinen "Wozzeck": ein Plakat, das er 1964 zur polnischen Uraufführung von Alban Bergs Oper in Warschau malte.Die Inszenierung wurde verboten, konnte erst 1981 verwirklicht werden.Als die Wozzeck-Plakate einen halben Tag die Hauptstadt bebilderten, wurde das Kriegsrecht ausgerufen.Lenicas tausendfach im Straßenraum geklebtes Kunstwerk wurde über Nacht zum Verzweiflungsschrei der Polen nach Freiheit.Lenica war kein politischer Dissident, aber er hielt sich seit Beginn seiner künstlerischen Arbeit Anfang der 50er Jahre im Mittelpunkt der unabhängigen Avantgarde auf.Selbst Zeichentrickfilmer, schuf er auch das Kinoplakat zu Roman Polanskis erstem Spielfilm "Das Messer im Wasser" (1962).Während seine Plakate, Bühnenbilder, Kostümentwürfe, Briefmarken und Kinderbuchillustrationen in ihrer satten Farbigkeit von der polnischen Folklore und in den Formen vom Jugendstil inspiriert sind, ist sein filmerisches Werk karg und abstrakt.In den Animationsfilmen des ehemaligen Professors der Berliner Hochschule der Künste hetzen schwarz-weiße Strichmännchen durchs Bild, verdrängt der Buchstabe A einen Mann beinahe aus seiner Wohnung.Ein mit deutschen Filmpreisen hochdekoriertes 60er-Jahre-Experiment, das fatalistischerweise damit endet, daß das endlich besiegte A durch ein ebenso großes und schwarzes B ersetzt wird.(AB)

Bis zum 3.Juli in der Berliner Festspielgalerie, Budapester Straße 48, Dienstag bis Samstag, 10 bis 18 Uhr.Die Polnische Woche läuft bis zum 8.Juni.

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