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Genremix. Halle Berry und Keith David in einer der sechs Erzählstränge von „Cloud Atlas“, der am 15. November in die deutschen Kinos kommt.

© X-Verleih

Filmfestival Toronto 2012: Der Schmetterlingseffekt

Politthriller, erste Oscar-Anwärter und „Der Wolkenatlas“: Eindrücke vom Filmfestival Toronto.

Die Menschen sind aufgebracht. Hunderte haben sich vor den Toren der US- Botschaft versammelt. Die Demonstranten skandieren antiamerikanische Parolen und recken geballte Fäuste. Vereinzelt sind Gewehre zu sehen. US-Flaggen gehen in Flammen auf. Dann durchtrennt ein Bolzenschneider die Kette am Gittertor und die Menge stürmt das Gelände. Nicht aus Bengasi, Kairo oder Tunis, weder von 2012 noch aus dem Fernsehen stammen diese Aufnahmen. Es sind Kinobilder und sie erzählen, wie militante Demonstranten in Teheran am 4. November 1979 auf dem Höhepunkt der iranischen Revolution die US-Botschaft stürmten und 52 Amerikaner als Geiseln nahmen.

Wenige Tage vor dem Angriff auf das amerikanische Konsulat in Bengasi hatte Ben Affleck seine neue Regiearbeit „Argo“ beim Filmfestival Toronto präsentiert. Die Produktion zeigt, wie die CIA damals sechs Botschaftsangehörige mit einer unglaublichen Legende außer Landes brachte. Hollywood selbst beteiligte sich an der Rettungsaktion: Der Plan der Geheimdienstler sah vor, dass die Amerikaner getarnt als Mitglieder einer kanadischen Filmcrew ausgeflogen werden sollten. Ein bekannter Hollywood-Produzent (Alan Arkin) sorgt dafür, dass das Pseudofilmprojekt mit Skriptlesungen und Pressekonferenzen in aller Munde ist, und ein CIA-Spezialist (Ben Affleck) weiht die Betroffenen in Teheran in die Gepflogenheiten des Filmgeschäfts ein. Leichtfüßig oszilliert „Argo“ zwischen amüsanter Farce und höchst spannendem Politthriller; der zynische Hollywoodbetrieb reibt sich an den realpolitischen Ereignissen der späten siebziger Jahre.

Auch wenn Ben Affleck pures Unterhaltungskino liefert, lässt er in einem Prolog keinen Zweifel an den historischen Schuldverstrickungen seines Landes, das im Iran mit den Konsequenzen seiner verfehlten Außenpolitik konfrontiert wurde. Dass heute, nach mehr als 30 Jahren, wieder die gleichen Bilder über die Fernsehmonitore laufen, könnte als Beleg dafür angeführt werden, dass die Geschichte der Menschheit von Wiederholungszwängen durchdrungen ist. Eine Sicht auf die Welt, die auch der mit Spannung erwartete „Cloud Atlas“ von Tom Tykwer und den Geschwistern Lana und Andy Wachowski („Matrix“) vermittelt.

Für die 100 Millionen Euro teure Independent-Produktion, die vorwiegend im Studio Babelsberg realisiert und mit deutschen Fördergeldern gut ausgepolstert wurde, war das Filmfest Toronto, das als das wichtigste für den nordamerikanischen Markt gilt, die ideale Startrampe. Das hochkarätige Ensemble von Tom Hanks über Halle Berry bis zu Hugh Grant und Susan Sarandon war fast komplett zur Premiere angereist und wurde im Princess of Wales Theatre mit lang anhaltenden Standing Ovations gefeiert. Bis zu sechs Rollen musste jeder Hauptdarsteller spielen, denn das komplexe Erzählkonzept folgt der Romanvorlage David Mitchells und ist auf sechs verschiedenen Zeitebenen angesiedelt.

Auf einem Segelschiff im Pazifik kreuzen sich 1849 die Wege eines britischen Kaufmanns und eines entflohenen Sklaven; ein erfolgreicher Komponist und ein Nachwuchsmusiker ringen 1936 um eine bahnbrechende Symphonie; eine Journalistin ist im San Francisco der Siebziger den Machenschaften eines Atomenergiekonzerns auf der Spur; im London von heute gerät ein harmloser Verleger in einen Strudel komödiantischer Ereignisse; im Seoul des Jahres 2144 wird eine geklonte Frau zur Symbolfigur eines revolutionären Aufstandes und in einer postapokalyptischen Zukunft im 24. Jahrhundert herrschen blutige Stammeskriege.

Die verschiedenen Erzählebenen überlagern einander nicht nur thematisch, sondern auch personell. Tom Hanks ist mal als zwielichtiger Schiffsarzt mit Überbiss zu sehen, dann als selbstkritischer Nuklearforscher, als wütender Romanautor, der in der besten Szene des Films einen Literaturkritiker von der Hochhausterrasse wirft, und als Clanführer mit futuristischen Kopftattoos. Die Maskeraden und Verfremdung der Gesichter durch forcierten Latexeinsatz sind Teil des künstlerischen Konzepts. Schließlich geht es in „Cloud Atlas“ um die Transzendenz von Zeit und Raum, um einen Film gewordenen Schmetterlingseffekt, in dem die Taten der Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einander beeinflussen. Mit einer hochdynamischen Schnittkomposition setzt der Film einen Mahlstrom der Ereignisse in Gang, in dem vom Historienepos, über die Komödie bis zum Science-Fiction- und Horrorfilm auch die Genres immer wieder neu übereinandergeschichtet werden.

„Unser Leben gehört uns nicht allein“, so die unüberhörbare Botschaft des Films, der die Konsequenzen menschlichen Handelns über die eigene Existenz hinaus beschwört. Die Frage, ob aus dem Strom der Bilder, Epochen und Genres ein sinnstiftendes Ganzes entsteht, kann mit einem entschiedenen „Jein“ beantwortet werden. „Cloud Atlas“ überrollt das Publikum förmlich mit seinem erzählerischen und visuellen Ehrgeiz, so dass man eigentlich erst beim zweiten Sehen eine Chance hat, die Metaebenen zu erfassen.

Mit seinem Willen zur narrativen Ambition war „Cloud Atlas“ in Toronto in bester Gesellschaft. Viele Beiträge versuchten die Erzählkonventionen aufzubrechen. In Rian Johnson stilvollem Zeitreisethriller „Looper“ treten Joseph Gordon-Levitt und Bruce Willis als gegenwärtiges und künftiges Ich gegeneinander an. Die Salman-Rushdie-Adaption „Midnight’s Children“ von Deepa Mehta reanimiert die postkoloniale Geschichte Indiens und Pakistans mit den Mitteln des magischen Realismus. In der intelligenten Täter-Opfer-Studie „The Place Beyond the Pines“ lässt Derek Cianfrance („Blue Valentine“) seine Hauptfigur mitten im Film sterben, um sich danach dem Leben des Polizisten zu widmen, der die Pistole in der Hand hält. Und David Ayers macht im Thriller „End of Watch“ zwei Gesetzeshüter mit Kameras zu Chronisten ihres Alltags in South Central Los Angeles.

Einen neuen Zugang zu einem klassischen Stoff findet Joe Wright in seiner fabelhaften Adaption von „Anna Karenina“. Eine gigantische Theaterbühne mit wechselnden Kulissenbildern wird zum fantastischen Raum einer Neuinszenierung, in der das Kino so frei atmen kann wie lange nicht mehr. Neben „Anna Karenina“ und „Argo“ erzeugte auch Roger Michells „Hyde Park on Hudson“ in Toronto einen Oscar-Buzz. Das Publikumsfestival in der Multikultimetropole hat keine Jury und keinen Wettbewerb, gilt aber in der Filmbranche gemeinsam mit dem Telluride Festival als Startrampe für das Rennen um die Academy Awards.

„Hyde Park on Hudson“ spielt wie der Oscar-Gewinner „The King’s Speech“ am Vorabend des Zweiten Weltkriegs; es geht um das Liebesleben Franklin D. Roosevelts (Bill Murray) und den Staatsbesuch des englischen Königspaars. Dem Film gelingt es, den Biss des Monarchen in einen Hot Dog zu einem dramatischen Höhepunkt und historischen Schlüsselmoment zu stilisieren. Ein echtes Kunststück.

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