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Kultur: Der Schrei des Hahnrei

KLASSIK

Dem neuesten Brockhaus scheint das Leben des Berthold Goldschmidt nicht berichtenswert zu sein. Dass dadurch nicht nur dem Opernkomponisten („Der gewaltige Hahnrei“) Unrecht getan wird, führt uns das Deutsche Symphonie-Orchester in der Philharmonie eindrücklich vor Augen. Das Konzert für Violoncello und Orchester von 1953 ist ein fein ziseliertes Klangereignis – wie geschaffen für die an diesem Abend in allen Stimmgruppen sensibel und klangschön agierenden Deutsch-Symphoniker. Zumal, wenn sie unterstützt werden von einem Musiker vom Range des famosen Cellisten David Geringas. Selbst der abschließende vierte Satz, eine halsbrecherische Tarantella, bleibt bei allem energischen Zugriff durchhörbar.

Dimitri Schostakowitsch kennt selbst der Brockhaus. Berlin hat seit dem Rückzug Kurt Sanderlings den Status des Mekkas der Schostakowitsch-Pflege eingebüßt. Wenn allerdings der gebürtige Pole und langjährige Chefdirigent in Minneapolis und Manchester, Stanislaw Skrowaczewski, auf das Podest steigt, ist aller Jammer vergessen. Der 80-Jährige dirigiert die zehnte Sinfonie nicht nur auswendig, er tastet sich auch sicheren Schrittes entlang all ihrer Abgründe. Und die lauern überall. Besonders im rasenden zweiten Satz, in dem Schostakowitsch filmreif die Fratze des frisch verstorbenen Joseph Stalin an jeder Ecke unter Orchesterschlägen drohend glotzen lässt. Oder im halb manisch scheppernden, halb depressiv schleppenden ersten Satz, von dem gesagt wurde, er sei ein Bild stalinistischer Schreckensherrschaft. All das gelingt beklemmend plausibel, ehrlich nachvollziehend, ohne Effekthascherei. Stanislaw Skrowaczewski – immerhin: von dem weiß der Brockhaus.

Helge Rehders

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