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Kultur: Der slawische Mythos

Ein kleiner Junge, der das Bild des letzten Zaren trägt, singt ein Kirchenlied.Die Demonstraten mit Jesus-Fahnen, Ikonen und Anti-USA-Transparenten fallen ein in den Gesang.

Ein kleiner Junge, der das Bild des letzten Zaren trägt, singt ein Kirchenlied.Die Demonstraten mit Jesus-Fahnen, Ikonen und Anti-USA-Transparenten fallen ein in den Gesang.Etwa tausend Menschen haben sich vor dem Moskauer Fernsehzentrum versammelt.Sie protestierten gegen den Moskauer Fernsehkanal NTW."NTW - NATO-Basis in Moskau" rufen sie.Im Gegensatz zu anderen russischen TV-Programmen bringt der Sender immer wieder Reportagen aus albanischen Flüchtlingslagern.Außerdem verschweigen seine Redakteure nicht, daß es im Kosovo ethnische Säuberungen gibt.Fur die russischen Nationalisten sind solche Informationen "einseitig" und falsch.Sie fordern, die Opfer unter der serbischen Bevölkerung sollten im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen.Auf der Kundgebung sprechen auch Geistliche.Sie erklären, die NATO führe einen Krieg gegen den orthodoxen Glauben.Organisator der Kundgebung ist der nationalistisch ausgerichtete russische Schriftstellerverband.Die Vereinigung, die sich selbst als Gewissen der Nation begreift und so bekannte Autoren wie Walentin Rasputin und Jurij Bondarew in ihren Reihen weiß, steht in Opposition zu dem demokratischen Schriftstellerverband.

Auf der Kundgebung wabert eine Mischung aus Religiosität, Fanatismus und Drohungen."Bombardiert die USA", ruft eine Rednerin, und die Demonstranten fallen minutenlang in den Sprechchor ein.Natürlich sei das nicht wörtlich gemeint, erklärt später eine Mitarbeiterin des Schriftstellerverbandes im persönlichen Gespräch.Ein anderer Sprecher fordert Freiwillige auf, sie sollten für einen Militäreinsatz nicht erst auf Befehle warten, sondern sich selbstständig auf den Weg nach Belgrad machen.Auf die Frage, wie er die ethnischen Säuberungen im Kosovo beurteile, meint Waleri Ganitschew, Sekretär des Schriftstellerverbandes, das seien "Zusammenstöße", die von ausländischen Kräften provoziert würden.

Und dann kommt gleich die Gegenfrage, ob die deutsche Öffentlichkeit wahrnehme, daß sich der Albaner-Führer Rugova gegen die NATO-Bombardierungen ausspreche? In der Frage schwingt eine in Rußland weitverbreitete Hoffnung mit: Den Amerikanern möchte man irgendwann einmal wieder Paroli bieten können.Deutschland wäre für diesen Fall der Wunschpartner.

Daß Deutschland sich als wirtschaftliche Großmacht den Amerikanern unterordnet, widerspricht dem herkömlichen Verstandnis und den Erfahrungen der Sowjetgeschichte.Die Teilnahme deutscher Kampfflugzeuge am NATO-Einsatz empfinden viele Russen als Verrat."Mit Kohl wäre das nicht passiert", brüllt ein Demonstrant.Zu den Kundgebungsrednern gehört auch Eduard Wolodin.Der Schriftsteller und bekennende Monarchist trägt seinen grauen Vollbart wie der letzte Zar Nikolaus II.Er sei Anwalt einer Verständigung zwischen Slawen und Muslimen, erklärt Wolodin.Als Beweis zeigt er auf seine knallgrüne, irakische Militäruniform.Wolodin meint, man müsse das russische Volk jetzt vor dem Jelzin-Regime retten.Danach sei es an der Zeit, die Nation wiederaufzubauen das Volk schrittweise erziehen."Nach unseren historischen Werten."

Alexander Solschenyzin ist nicht Mitglied in nationalistischen Schriftstellerverband.Solschenyzin, der seit seiner Rückkehr nach Rußland bei Moskau lebt, geht seinen eigenen Weg und äußert sich zu wichtigen politischen Ereignissen mit kurzen Erklärungen in der Hauptstadtpresse.Vor wenigen Tagen publizierte die Moskauer "Nesawisimaja Gaseta" seinen Aufruf mit dem Titel "Gesetz der Taiga".Dort geißelt Solschenyzin das "Recht des Stärkeren", nach dem die westlichen Staaten handelten, indem sie das UNO-Statut mißachteten und ein "wunderbares, europäisches Land" zerstörten.

Ganz andere Akzente setzen die Schriftsteller, denen die Verbindung Rußlands zum Westen wichtig ist.In einer Erklärung des russischen PEN-Zentrums heißt es, die Bombardierung Jugoslawiens, welche sich gegen das Milosevic-Regime richte und den Schutz der Kosovo-Albaner zum Ziel habe, führe zum gegenteiligen Resultat.In der unter anderem von Dmitri Lichatschow, Andrej Bitow, Fasil Iskander, Andrej Wosnesenski unterzeichneten Erklärung heißt es, das Schicksal der Albaner habe sich letztlich nur verschlechtert, und das Milosevic-Regime gehe gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor.Auch für die russische Opposition, die Kommunisten und Nationalisten, seien die Bombardierungen günstig.Diese betrieben jetzt eine antiwestliche Kampagne, sie nutzten die Situation damit für antidemokratische und militaristische Auftritte.Die Autoren appellieren an ihre Kollegen im Westen, mit allen Kräften auf ihre Regierungen einzuwirken, den Krieg zu beenden und Friedengespräche zu beginnen.

Viktor Jerofejew, in Europa und in den USA durch seinen Roman "Die Moskauer Schönheit" bekanntgeworden, befürchtet, daß Rußland seine politischen und kulturellen Verbindungen zum Westen verliert.Im persönlichen Gespräch erklärt Jerofejew, die politische Kultur in Rußland sei noch sehr unterentwickelt.Daher reagiere die öffentliche Meinung durchaus auf die antiwestliche Propaganda.Sie falle auf fruchtbaren Boden, weil Rußland sich auf Grund seiner ökonomischen Situation in einem Zustand der Kränkung und Demütigung befindet.

In solcher Lage werde in jedem Land versucht, die Mißstimmung auf einen äußeren Feind umzulenken.Der Balkan, so Jerofejew, habe Rußland schon immer vom Westen getrennt."Wenn dort ein Konflikt beginnt, verliert Rußland sofort seine westliche Orientierung und beschwört den slawischen Mythos." Auch Jerofejew ist gegen eine militärische Intervention, weil sie die Probleme im Kosovo und in Restjugoslawien nicht löse, und wenn die Bombardierung weitergehe, stärke dies die kommunistischen und nationalistischen Kreise in Rußland.Ohne die Schrecken im Kosovo herunterspielen zu wollen, müsse man in der Politik "die Probleme berücksichtigen, die aus den jetzigen Problemen folgen werden.Diese sind gefährlich für mein Land und die übrige Welt".

ULRICH HEYDEN

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