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© dpa

Jerusalem: Der steinige Rückweg in die Geschichte

... ist der einzige Weg in eine friedliche Zukunft. Rede zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels. Von Schriftsteller Abraham B. Yehoshua

Sechzig gilt nicht als besonders feierliche Jubiläumszahl. Und doch wird der 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel in aller Feierlichkeit begangen. Was vielleicht daran liegt, dass Israel der junge Staat eines alten Volkes ist. Zur Stärkung seiner komplexen Persönlichkeit lässt man ihm viel Aufmerksamkeit zukommen, damit der Jubilar sich trotz seiner Probleme geliebt fühlt.

1998 wurde das 50. Staatsjubiläum gefeiert: Nachdem die Oslo-Abkommen 1993 unterzeichnet worden waren und ein Durchbruch für die Legitimität der nationalen Existenz beider Völker auf der Basis einer Gebietsteilung erreicht war, dachte man, der uralte Konflikt strebe endlich einer Lösung entgegen. Vor zehn Jahren blickte man positiv in die Zukunft.

Leider ist seitdem eine schmerzliche Regression eingetreten. In dem Gefühl, die Zukunft werde rosiger, kann ein Mensch oder ein Volk lange Zeit schwierige Umstände ertragen. Wenn der Betreffende bei seiner Genesung aber von einer Regression zurückgeworfen wird, kann die Verzweiflung überhand nehmen. Das erleben wir seit zehn Jahren.

Zürück in die Heimat nach 2000 Jahren, das ist einzigartig

Im Unabhängigkeitskrieg von 1948 kämpfte der junge jüdische Staat schlicht ums Überleben, seine Vernichtung lag im Bereich des Möglichen. Auch im Sechstagekrieg von 1967 war seine Existenz akut gefährdet. Und doch hätte damals wohl kein Israeli den bestürzenden Satz gesagt, den ich heute gelegentlich höre: „Der Staat Israel wird vielleicht nur eine Episode in der jüdischen Geschichte sein.“ Warum eigentlich sind schwierigere Konflikte als der israelisch-arabische – die Apartheid in Südafrika, die deutsche Teilung oder die Auflösung der Sowjetunion – zu einer annehmbaren und oft auch unblutigen Lösung gelangt, während der Nahostkonflikt seit über hundert Jahren Opfer fordert? Und das, obwohl alle Welt und die kämpfenden Parteien vermutlich wissen, wie die Lösung aussehen kann?

Ein Grund dafür ist die Einzigartigkeit des Konflikts und der „Rückkehr nach Zion“. Ich wüsste kein historisches Beispiel für ein Volk, das nach 2000-jähriger Abwesenheit in das Territorium zurückkehrt, das es immer als seine Heimat betrachtet hat. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten in Palästina nur ein bis anderthalb Prozent des jüdischen Volkes, das rund 18 Millionen Seelen zählte. Heute sind es über fünfzig Prozent. Einzigartig ist das Ereignis aber auch für die Palästinenser und die gesamte arabische Welt. Da die Juden selbst über ihre tatsächliche Rückkehr in die biblische Heimat staunen – die Idee blieb lange ein halb messianischer, religiöser Traum –, ist es kein Wunder, dass auch die Araber und besonders die Palästinenser kaum in der Lage sind, mit dem Los, das sie überrumpelt hat, fertig zu werden.

Es gibt Konflikte zwischen Nachbarvölkern über Territorien. Es gibt kolonialistische Eroberungen, bei denen Frankreich, England oder Belgien Territorien erobern, um deren Ressourcen auszubeuten und die Einwohner zu unterjochen. Es gibt auch Eroberungen im Stil von Nord- und Südamerika oder Australien, bei denen Auswanderer sich im unbekannten Land eine neue Identität aufbauen und mit den Ureinwohnern ringen, sei es gewaltsam oder durch deren Assimilation. Die Rückkehr der Juden ins Land Israel ist jedoch kein Kolonialismus, der von einem europäischen Mutterland ausgeht, sondern ein Sonderfall. Die Juden hatten nirgends ein Mutterland, erlitten in Europa Vernichtung und Vertreibung. Sie kamen nicht in der Absicht, Palästinas Einwohner zu unterjochen, ebenso wenig kamen sie als Siedler, um sich eine neue Identität aufzubauen. Der Zionismus wollte vielmehr die alte Identität erneuern und den partiellen Juden, der in seinem Diasporadomizil nicht sein eigener Herr war, in einen ganzen Juden verwandeln, der im eigenen Land unter eigener Herrschaft Verantwortung für alle Bereiche des täglichen Lebens übernimmt.

Die Juden ließen die Einheimischen wissen: Euer Land ist eigentlich unser Land. Eure Wohnorte haben früher mal uns gehört. Wir fügen den Namen eurer Städte und Dörfer die ursprünglichen Namen hinzu. Wir sind nicht hergekommen, um euch zu erobern oder zu vertreiben, sondern um eure Wirklichkeit durch unsere völlig andere historische Narrative zu ersetzen.

Verständlicherweise waren die Araber entsetzt über diese Invasion, bis heute weigern sie sich, sie als rechtmäßig anzuerkennen. Zumal sie – wie viele andere – die Juden Jahrhunderte lang nur als Angehörige einer anderen Religion und nicht als Nation betrachtet hatten. Einer Religionsgruppe steht kein eigener Staat zu. Da die Araber nichts historisch Vergleichbares kannten, versuchten sie, den Zionismus als normalen Kolonialismus einzustufen. Sie dachten, man könne ihn auf dieselbe Weise bekämpfen, wie andere Völker sich des Kolonialismus erwehrten. Daraus erklärt sich die Schwäche ihres Kampfs.

Das Existenzrecht Israels ist die Kernfrage des israelisch-arabischen Konflikts. In keiner internationalen Auseinandersetzung erlangte die Legitimitätsfrage je derart prinzipielle Bedeutung. Selbst im Inferno des Zweiten Weltkriegs hat kein Volk, auch nicht das jüdische, das Existenzrecht des deutschen Volkes verneint. Doch wir ringen immer noch um unsere blanke Legitimität. Das ist die unerbittlichste Waffe, die Araber und Palästinenser gegen uns einsetzen, zumal die Frage nach dem Existenzrecht mancherorts nicht einmal mit einem echten territorialen Konflikt zusammenhängt. Der Iran hatte niemals eine militärische Auseinandersetzung mit Israel. Die beiden Staaten liegen geografisch weit auseinander, und doch steht der Iran nun schon fast dreißig Jahre an der Spitze derer, die Israel das Existenzrecht absprechen und es zu vernichten drohen. Damit bestärkt er auch andere. Namhafte Intellektuelle äußern sich ähnlich, nur in feinerer Form.

Die Legitimation für die Gründung des Staates Israel verlieh die Völkerfamilie in der UN-Abstimmung vom 29. November 1947, als kommunistische und demokratische Staaten im beginnenden Kalten Krieg übereinkamen, Palästina in zwei Staaten aufzuteilen. Diese Entscheidung entsprang dem moralischen Bedürfnis, den Juden nach den Gräueln der Schoa wieder aufzuhelfen, und dem Umstand, dass die Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg fürchteten, die antisemitische Vergiftung könnte ihnen selbst gefährlich werden. Der Antisemitismus ist nämlich nicht nur ein Problem der Juden, sondern auch eins der Völker, in deren Mitte sie leben. Das pathologische Wechselverhältnis zwischen Nichtjuden und Juden kann dem Opfer und seinem Mörder Unheil bringen. Liest man Hitler-Biografien und erkennt, wie weit seine krankhaften Vorstellungen von den Juden sein Handeln irreleiteten, bis es Unheil über sein eigenes Volk brachte, versteht man, dass Europa auch sich selbst helfen wollte.

Allerdings hatten die Völker, die für die UN-Resolution stimmten, Palästinenser und Araber nicht um ihre Einwilligung in die Zuteilung des Landes gebeten, das größtenteils aus Ödland und Wüste bestand. Indirekt sagte man den Palästinensern, dass auch sie Anteil an den Weltproblemen hätten, und verlangte deshalb von ihnen, auf einen Teil des eigenen Landes zu verzichten. Im Gegenzug versprach man ihnen Souveränität im verbleibenden Teil und Hilfeleistungen als Entschädigung. Dieses Schuldgefühl der Welt gegenüber den Palästinensern halte ich für ein positives, moralisches Empfinden, obwohl es häufig nicht konstruktiv eingesetzt wurde. Die humanitäre Hilfe anstelle von stabiler Eigenständigkeit und Souveränität hat nur die chronische Abhängigkeit befördert.

Die ursprüngliche sture Weigerung, Israels Legitimität anzuerkennen, hat trotz allem positive Veränderungen erfahren, etwa in der Erkenntnis, dass das Judentum vor allem eine nationale Identität ist. Die Juden haben ihren Weg in der Geschichte als Volk Israel begonnen, noch ehe sie die Tora am Sinai empfingen. Die jüdische Religion ist ein zwar bedeutsamer, aber doch freiwilliger Bestandteil der nationalen Identität, wie der Katholizismus für die Franzosen, der Protestantismus für die Niederländer oder der Islam für Ägypter und Türken.

Zwei Staaten mit klarer Grenze, darauf haben beide Völker ein Anrecht

Obwohl die israelische Nationalität zunehmend auch im Nahen Osten anerkannt wird, bleiben zwei gefährliche Hindernisse beim Friedensprozess. Zum einen hat man sich überall dort, wo Israel unter Feuer gerät, auf den Begriff Zionismus eingeschossen. Die Hamas-Sprecher in Gaza reden nicht von Israelis, sondern von Zionisten, und den gefangenen israelischen Soldaten bezeichnen sie als zionistischen Soldaten. Auch der Hisbollah-Führer, Scheich Nasrallah, spricht von uns nicht als Israelis oder Juden, sondern als Zionisten, ebenso die die Führer Irans und andere. Sprüche von der "Entzionisierung" des Staates Israel hört man weltweit in Intellektuellenzirkeln an Universitäten, sogar in linken jüdischen Kreisen. Auch in Israel gibt es einige, allerdings wenige, die sich Postzionisten oder A-Zionisten nennen. Da der Antisemitismus strafbar ist, ersetzt man die Kritik an Juden durch Anwürfe gegen den Zionismus, als sei er der Kern allen Übels.

Die zionistische Bewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Ziel, einen jüdischen Staat im Land Israel zu gründen, der jedem Juden, der dort heimisch werden wollte, offen steht. Das ist der Zionismus: keine Ideologie, sondern eine Plattform für unterschiedliche Ideologien. Jeder Jude, der sich dem Zionismus anschloss, hatte seine eigenen Träume – über die Größe des Staatsgebiets, das Regierungssystem, die kulturelle Ausrichtung und natürlich auch bezüglich der arabischen Minderheit im Land. Die Debatten darüber ähneln den politischen, ökonomischen und kulturellen Debatten, die jede Nation der Welt führt.

Einziger praktischer Ausdruck des Zionismus heutzutage ist das Rückkehrrecht. Es ist kein rassistisches, sondern ein moralisches Recht, denn die Vereinten Nationen dachten ja nicht nur an die 600 000 Israelis, die seinerzeit dort lebten, sondern wollten, dass das Land jeden Juden aufnehmen kann. Deswegen ist das zionistische Rückkehrgesetz die moralische Voraussetzung des internationalen Strebens, das zur Gründung des Staates Israel führte. Und sobald der Staat Palästina neben dem Staat Israel entsteht, wird es ein entsprechendes palästinensisches Rückkehrgesetz geben, das es jedem palästinensischen Flüchtling erlaubt, in seinen Staat zurückzukehren. Wer also Israel wegen seiner Politik kritisieren möchte – und es gibt durchaus etwas zu kritisieren – möge das mit den Begriffen tun, mit denen er jeden anderen Staat der Welt kritisiert: ohne den Zionismus zu bemühen.

Das zweite Hindernis für die Fortsetzung des Friedensprozesses ist die Idee, die Gründung eines binationalen, palästinensisch-israelischen Staates der Zweistaatenlösung vorzuziehen. Auf dem Papier sieht diese Lösung bestechend aus, aber sie ist nur ein Patentrezept für die Verewigung des Konflikts. Denn in ihr verbirgt sich die gefährliche Illusion, in einem Staat ließen sich zwei Völker friedlich vereinen, die sich in Sprache, Religion, Kultur und Geschichte erheblich unterscheiden, zwischen denen eine wirtschaftlicher Abgrund klafft und die einer jeweils eigenen Außenwelt verbunden sind: die Palästinenser der arabischen und die israelischen Juden der jüdischen Welt.

In Europa sehen wir gegensätzliche Entwicklungen. Völker, die einander in Religion, Kultur und Geschichte nahe stehen, trennen sich heute in separate Staaten, wie Tschechen und Slowaken oder die Völker Jugoslawiens und der ehemaligen Sowjetunion. Wie sollen Palästinenser und Israelis einen gemeinsamen Staat gründen, ohne dass daraus im Handumdrehen ein Apartheidsregime oder ein Staat im Dauerstreit entsteht?

Palästinenser wie Israelis haben das Anrecht auf je einen Staat für sich, mit einer klaren Grenze dazwischen. In Israel lebt eine arabisch-palästinensische Minderheit, deren Angehörige Staatsbürger und Partner sind, wenn auch noch viel zu tun bleibt, um ihnen volle sozioökonomische Gleichstellung zu verschaffen. Gut möglich, dass es im palästinensischen Staat auch eine kleine jüdische Minderheit geben wird, jenen harten Kern von Siedlern, die sich nur unter größten Schwierigkeiten umsiedeln lassen und denen die palästinensische Staatsbürgerschaft verliehen werden könnte. Die Mauer zwischen Israel und Palästina, die auf der international anerkannten Grenze von 1967 errichtet würde, wäre dann die richtige Grenzbefestigung, nicht die problematische Mauer, die bisher auf palästinensischem Gebiet hochgezogen wurde. Eine solche Mauer an der richtigen Stelle hätte keine Ähnlichkeit mit der Berliner Mauer, sie wäre eine echte Grenze mit offiziellen Übergängen. Es ist die einzige Lösung für ein friedliches Leben im Nahen Osten.

Die Geschichte hat uns gelehrt, dass der Antisemitismus keine deutsche, sondern eine allgemeinmenschliche Krankheit ist. Antisemitische Erscheinungen gab es schon in der Antike, heutzutage sehen wir schlimme antisemitische Auftritte fern von Europa. Trotzdem erlebte die Krankheit ihren extremsten Ausbruch in Europa und besonders hier in Deutschland. Deshalb, meine ich, sind die Deutschen in besonderer Weise verpflichtet, Juden und Palästinenser bei der Suche nach einem friedlichen Modus Vivendi zu unterstützen. Deutschland könnte aktiv die Führung übernehmen und das vereinte Europa mit den gemäßigten Ländern der Arabischen Liga zusammenbringen, um ein Friedensabkommen zwischen den beiden Völkern durch echte Sicherheits- und Wirtschaftsgarantien abzusichern.

In der Frühzeit des Zionismus sagte der große jüdische Philosoph Gershom Scholem, der hier in Berlin geboren wurde: Jetzt treten die Juden den schweren Rückweg in die Geschichte an. Die Juden, die ihre Identität in der Diaspora auf mythologische Erinnerung gestützt hatten, kehren zu den wahrhaft historischen Bestandteilen ihrer Identität zurück. Daher ist es den USA, deren Identität mehr auf Mythen als auf klarem Geschichtsbewusstsein aufbaut, beim besten Willen nicht gelungen, die Probleme des Nahen Ostens richtig einzuschätzen. Die Europäer als wahrhaft historische Völker sind besser dafür gerüstet, den zionistischen Prozess der Rückkehr in die Geschichte und die Schaffung der richtigen Landesgrenzen in Nahost zu unterstützen. Es wäre das große Privileg des heutigen Deutschlands, Europa als Hauptpartner in den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern hineinzuführen.

– Wir drucken die Rede, die Abraham B. Yehoshua gestern zur Eröffnung der Veranstaltungsreihe „Begegnungen – 60 Jahre Israel in Berlin“ in der Akademie der Künste hielt, in einer gekürzten Fassung. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Piper Verlag GmbH. – Heute um 18 Uhr liest Yehoshua mit Christoph Hein u.a. im Akademie-Foyer am Hanseatenweg. Infos: Habimah Berlin

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