zum Hauptinhalt

Kultur: Der Text ist die Party

Detlef Kuhlbrodt erzählt in „Umsonst und draußen“ aus seinem Leben.

Das Unwichtigste am Fußball sind die Ergebnisse. Seine wahre Poesie entfaltet ein Spiel, bevor es angepfiffen wird: Weil dann alles noch möglich ist. „Man fühlt sich wie vor der Loveparade“, schreibt Detlef Kuhlbrodt über das Endspiel der Europameisterschaft 2008, dessen Beginn er mit einigen hunderttausend anderen Menschen auf der Fanmeile im Berliner Tiergarten erwartet. Männergruppen stimmen Chöre an, die an politische Demonstrationen erinnern. Sirenen heulen, die Hysterie steigt, Absperrgitter werden umgestoßen.

Polizisten „in dumpfem Schwarz“ marschieren auf, „so schwarz wie die Autonomen früher“. Kiffende türkische Jugendliche, Jungs mit „Tyson-Schnitt“, verbrüdern sich mit kiffenden deutschen Jugendlichen. Einer ist in eine deutsche Fahne gehüllt, darunter trägt er eine „schöne schwarze Jacke“ mit Goldbuchstaben auf dem Rücken: „Captain Kiff“.

Dass Deutschland gegen Spanien spielt und am Ende mit 0:1 verliert, erwähnt Kuhlbrodt mit keinem Wort. Das weiß sowieso jeder, der das Spiel gesehen hat. Kuhlbrodt ist kein Sportreporter, sein Thema ist der Alltag. Genauer gesagt: sein eigener Alltag. „Immer hatte ich das Gefühl gehabt, keine Geschichte schreiben zu können. Und die Leute beneidet, die in ihren Geschichten lebten“, heißt es am Anfang seines Buches mit dem tollen Titel „Umsonst und draußen“. Dabei tut der Berliner Autor auf den folgenden zweihundert Seiten genau das: seine eigene Geschichte mitschreiben.

„Umsonst und draußen“ versammelt Auszüge aus dem Blog, den Kuhlbrodt für die „taz“ führt. Blogs funktionieren nach dem Aktualitätsprinzip, der neueste Eintrag steht oben. Im Buch dreht Kuhlbrodt diese Chronologie um. Es beginnt mit Notizen von einem Montag im März 2006 und endet an einem Mittwoch im Juli 2008. So wird aus dem Gegenwartsmedium eine Art Roman, bei dem der Leser den Icherzähler eine Zeit lang durch dessen Leben begleitet.

Kuhlbrodt schreibt in einem lakonischen, oft schwebend leichten Ton, der einen eigentümlichen Sog entfaltet. Manche seiner Sätze gleichen Meditationen und scheinen von innen heraus zu leuchten. „Langsam, leicht, so ganz allmählich wurde das Licht hochgedimmt“, beginnt eine Passage, in der er schildert, wie die Morgensonne sein Kreuzberger Arbeitszimmer erobert, sich langsam die hässlichen Wände des Hauses gegenüber hochtastet, von Fenstern reflektiert wird.

Kuhlbrodt schwärmt von David Bowie, T.Rex und dem FC Schalke 04, unternimmt Spaziergänge und Fahrradausflüge, guckt fern und daddelt auf seinem Computer, muss zum Zahnarzt, spielt Tischtennis mit Freunden. Großereignisse und Debatten kommen nur en passant vor, die Fußball-Europameisterschaft oder die Einführung des Rauchverbots in Gaststätten, das der rauchende Autor eher kritisch kommentiert.

„Umsonst und draußen“ ist vor allem ein Tagebuch, das von der Trauer, dem Scheitern und vom Wiederneuanfangen handelt. Halb euphorisiert, halb ernüchtert fliegt Kuhlbrodt nach Helsinki, um eine Frau wiederzutreffen, die er bei einer Party anlässlich des 100. Geburtstages des LSD-Erfinders Albert Hofmann kennengelernt hatte. Mit E-Mails und SMS hatten sie sich „in eine Liebesgeschichte hineingesteigert“. Helsinki ist wunderbar, sie fahren zusammen zum Filmfestival in Tampere. Aber aus der großen, alles verändernden Liebe wird dann doch nichts. „Das Ich, das zurück nach Berlin gekommen war, fühlte sich anders an als das Ich, das weggefahren war“, resümiert er. „Der Winter aus Helsinki hielt noch vor. Der Körper produzierte immer noch Wärme, wie ein Ofen, als wäre es draußen immer noch kalt.“

Bald darauf fährt Kuhlbrodt in seine Heimatstadt Bad Segeberg, wo der Vater gestorben ist. Er hat sich im Keller erhängt. „Ich bin 44“, schreibt der Sohn. „Er war 77 geworden.“ Bemerkungen über die klaustrophobische Kleinstadtenge wechseln mit Kindheitsreminiszenzen, Schilderungen der Beerdigungsvorbereitungen, Gesprächen mit der Mutter, Verwandten, Freunden. Der Vater war vom Krieg geprägt, ein großer Schweiger, das Verhältnis zum Sohn scheint nicht unkompliziert gewesen zu sein. Doch die Notizen über „Papa“, seine norddeutsch zernuschelte Aussprache, seine Sammelwut und Kauzigkeit, sind ein anrührender Abschiedstext, in dem zugleich die Skizze einer Autobiografie des eigenen Erwachsenwerdens steckt. Detlef Kuhlbrodt erzählt in schonungsloser Offenheit. „Umsonst und draußen“ – nach der Kurzprosasammlung „Morgens leicht, später laut“ das zweite Buch des Autors – ist große Literatur.

Detlef Kuhlbrodt

Umsonst und draußen. Edition Suhrkamp,

Berlin 2013.

199 Seiten, 12 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false