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Kultur: Der Über-Franzose

Er war immer da: Als Bürgermeister, als Ministerpräsident, als Präsident. Ein Leben mit Jacques Chirac

Manche Politiker kommen uns vor wie Möbelstücke. Wie diese Sofas, von denen man sich nicht trennen kann, sie werden immer wieder neu bezogen, damit ihr von der Sonne ausgebleichter und vom Gebrauch mitgenommener Bezug neuen Glanz erhält. Einer Laune der Hausherrin folgend werden sie alle fünf Jahre von einer Ecke in eine andere gerückt, doch das Wohnzimmer der Familie verlassen sie nie. Man behält sie aus Gewohnheit, aus einem lächerlichen Hang zur Sentimentalität. Schließlich haben sie schon mehreren Generationen gedient! Stumme Zeugen so vieler Abschnitte unserer Lebensgeschichte. Sie gehören zur Einrichtung. Einem solchen Möbelstück ähnelt Jacques Chirac.

Seit bald 40 Jahren ist Chirac in den französischen Wohnzimmern festgewachsen. Ich ging noch zur Grundschule, als der treue Diener von Georges Pompidou seinen Aufstieg zur Macht begann. Sonntags bei den Großeltern sahen wir im Fernsehen den gut gekleideten jungen Mann, einziger Sohn einer Mutter, von der er vergöttert wurde. Es gab nur einen Sender damals, als Chirac, Jahrgang 1932, bereits mit energischen Schritten den schwarz-weißen Bildschirm überquerte. Eine lange höfliche Silhouette im Kielwasser von Präsident Pompidou. Chirac küsste den Damen die Hand. Chirac sah dem Präsidenten aufmerksam über die Schulter. Es war die Zeit von Johnny Halliday und Sylvie Vartan, wie lange ist das schon her. Ich träumte von einer Zukunft als Primaballerina. Chirac träumte von einer Zukunft als Staatspräsident.

Beinahe 40 Jahre: In keinem anderen westlichen Land verzeichnen wir eine so lange politische Karriere. Neben diesem Rekord sind Helmut Kohls 16 Jahre nur ein Windhauch. Chirac ist der Veteran Europas. Ganz gewiss ist er derjenige, der die politischen Akteure unserer Zeit am besten kennt. Für Frankreich verkörpert er das Gleiche wie Königin Elizabeth II. für Großbritannien: Kontinuität. Die Welt verändert sich, die politischen Akteure kommen und gehen, doch Chirac bleibt, ein irgendwie beruhigender Fixstern.

Mehrere Generationen sind mit ihm aufgewachsen. Solange ich zurückdenken kann, begleitet Chirac mein Leben. Er eilt von einem Ministerposten zum nächsten, wird 1974 zum ersten Mal Premier, ist lange Zeit Bürgermeister von Paris, bezieht erneut als Premier das Hôtel Matignon. Er ist da, als ich aufs Gymnasium komme und als ich das Abitur mache. Jedes Jahr ist er am 14. Juli auf den Champs Elysées. Er ist da, als meine Kinder geboren werden. Auch am 11. September und beim Tsunami. Chirac hat alle Stürme überstanden: Mehrere hässliche Affären, die den Ruf eines deutschen Politikers unwiderruflich zerstört hätten; eine Serie despektierlicher Fotos, die ihn im Urlaub in Shorts und schwarzen Socken zeigen; die Beschimpfungen der amerikanischen Presse während des Irakkrieges, die ihn „Saddam Husseins Pudel“ nannte; die politischen Fehler und schlechten Ergebnisse an den Wahlurnen. Mehrmals scheint seine Laufbahn beendet zu sein. Aber er kommt jedes Mal zurück, wie das Frettchen in dem französischen Kinderlied: Immer wieder taucht es auf und ist einfach nicht zu fangen.

Ich bin keine Primaballerina geworden, aber Chirac hat es schließlich geschafft, auf General de Gaulles Sessel im Elyséepalast Platz zu nehmen. Das war vor gut zehn Jahren, am 17. Mai 1995. Wir feierten gerade den 40. Geburtstag einer Freundin in einem Landhaus in der Nähe von Paris. Wir hatten die ganze Nacht getanzt, eine Menge getrunken und sehr viel über die Mitte des Lebens philosophiert. Chirac galt uns als alter Mann: Die letzten paar Strähnen mit Pomade befestigt und über den Schädel drapiert, erinnert er uns an unsere eigene Vergänglichkeit. Am nächsten Abend vor dem Fernseher in dem Landhaus: Ein Schrei zerreißt die Stille: „Chirac? Das darf doch nicht wahr sein!“ Chirac ist soeben zum Staatspräsidenten gewählt worden und fegt damit 14 Jahre sozialistischer Herrschaft hinweg. Nationalhymne. Trikolore. Chirac, feierlich, die Hände auf dem Schreibtisch ineinander gelegt, wendet sich an die Nation. Und er sagt uns: „Frankreich muss wieder zum Leuchtturm der Völker werden!“ Wann immer ich ihn im Fernsehen gestikulieren sehe, bekomme ich einen Lachkrampf. Das ist stärker als ich – Ergebnis meiner 15-jährigen Erfahrung mit deutschen Politikern, die schlichter auftreten und mit theatralischen Gesten geizen. Diese schwülstige Rhetorik, dieses Augenrollen, diese Hände, die wie auffliegende Vögel durch die Luft flattern, diese blumigen Wortgirlanden, wenn es um die französische Grandeur geht, dieses patriotische Gurren, das man aus der III. Republik kennt. Frankreich hier, Frankreich da. Chirac senkt die Stimme, wann immer er Frankreich beschwört. Er erstarrt. Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. Er verfällt in den feierlichen Tonfall vergangener Zeiten. Ich muss an eine alte Wochenschau denken. Er hält sich für Clémenceau. Er hält sich für De Gaulle. Wenn Horst Köhler schamhaft von „Liebe“ zu seinem Land spricht, schreit das Feuilleton, ein Tabu sei verletzt worden. Doch man stelle sich die neue Kanzlerin vor, wie sie am Tag ihrer Wahl die weltumspannende Mission Deutschlands verkündet!

Und Jacques Chirac zögert nicht, das Licht anzumachen, das die Welt erleuchten sollte. Am 5. September 1995 kaufe ich ein Vollkornbrot in meinem Bioladen in Berlin. Die Besitzerin gibt mir das Wechselgeld. Kein Wort. Kein Lächeln. Kein Blick auch nur. Chirac hat sich eine explosive Ouverture erlaubt. Einige Monate nach seiner Machtübernahme unternimmt er eine Serie von Atomtests auf dem Mururoa-Atoll im Südpazifik. Internationale Empörung. Neuseeland ruft seinen Botschafter zurück. Die Deutschen boykottieren französischen Rotwein und Käse. Chirac kümmert das nicht. Er prangert die „irrationale“ Einstellung gewisser Regierungen an. Die Atomtests sind laut „Libération“ ein gutes Mittel, „seine präsidiale Männlichkeit eklatant unter Beweis zu stellen“.

Juni 1997. Ich bin in Bonn, im Bundestagsarchiv. Es riecht staubig, ranzig. Meine Finger sind von der Tinte geschwärzt. Seit Stunden suche ich in den Zeitungen nach Karikaturen von Chirac. Meine Zeitung will wissen, was die Deutschen von unserem Präsidenten halten. Nachdem er die Nationalversammlung aufgelöst hat, hat er soeben die Wahlen verloren. Der Sozialist Lionel Jospin ist Premierminister. Die fünf Jahre der „Kohabitation“ beginnen, der großen Koalition à la française. Die deutschen Federn schonen den Präsidenten nicht: Steinewerfer im Glashaus; Cowboy, der sich in den Kopf schießt; autistischer Clown. Er wird verhöhnt und ausgelacht. Wir schämen uns für unseren Präsidenten. Wir kommen zu dem Schluss, dass das altmodische Wohnzimmer aufgemöbelt werden sollte. Die Presse bestellt die Spediteure, um das abgeschabte alte Sofa endlich zu entsorgen.

Stopp! Das war etwas zu voreilig. Und schon taucht Chirac wieder auf, als niemand mehr damit gerechnet hat. Am 1. Mai 2002 marschieren 400000 Pariser von der Place de la République zur Place de la Nation. Der Kreuzweg aller, die in der Hauptstadt gegen etwas zu protestieren haben. „Wie im Mai 68“, jubelt ein verblüfftes älteres Paar, das sich in seine Jugend zurückversetzt fühlt. Sie hat graue Haare. Er hat sich einen Bauch zugelegt. Die Bereitschaftspolizisten stehen auf den Bürgersteigen. Die antirassistischen Initiativen ebenfalls. Die Gewerkschaften. Die südamerikanischen Panflöten und die afrikanischen Trommeln.

Linke Folklore, aufgeboten für einen rechten Präsidenten. Ganz Frankreich ist angetreten. In der Menge erkennt man Laetitia Casta und Claudia Cardinale. Viele junge Leute sind gekommen, Studenten, Schüler. Frankreich entdeckt entzückt, dass die Generation, der alles „wurscht“ ist, die sich nur für Marken interessiert und das politische Engagement ihrer Eltern verachtet, doch noch einen Rest politischen Bewusstseins aufbringt. Ihr „republikanischer Ruck“ wird gelobt. Das Herz geht uns auf, die Tränen treten uns in die Augen, als wir da so alle gemeinsam marschieren. Wir sind zwischen zwei Präsidentschaftswahlgängen. Am 21. April, der Schock: Jean-Marie Le Pens rechtsradikale Front National streicht 17 Prozent ein. Eine Demütigung für Chirac, als Frankreich, der „Leuchtturm der Völker“, mit Haiders Österreich verglichen wird. Chirac muss gewählt werden, um Le Pen abzuwehren. „Chirac wählen? Vor ein paar Wochen hätten wir das für einen Witz gehalten!“ Zwischen République und Nation wird hitzig diskutiert.

„Wenn ich Chirac wähle“, so ein linker Lehrer, „muss ich die Luft anhalten und die Augen zumachen, bevor ich meinen Wahlzettel in die Urne werfe!“ Chirac, Vater der bedrohten Nation.

Am 5. Mai fügen wir uns. Manche schließen die Augen. Andere lächeln unglücklich. Ein surrealistisches Erlebnis, dass wir Chirac wählen, aber unumgänglich. Es ist so, als würde man von einem alten SED-Kader in Eisenhüttenstadt verlangen, dass er für Guido Westerwelle stimmt. Das Ergebnis lässt an die Wahlfälschungen in den einstigen Volksdemokratien denken: Um die 80 Prozent für Chirac. Das Sofa bleibt dem nationalen Wohnzimmer erhalten. Chirac übernimmt das Amt noch einmal, aber mit einer gewissen Melancholie. Er ist sich bewusst, dass dieser unerwartete Sieg keineswegs ein „Ja“ für ihn bedeutet, sondern ein donnerndes „Nein“ für einen anderen. Chirac hat sich nie mit der extremen Rechten eingelassen. Le Pen verabscheut Chirac. Chirac verabscheut Le Pen. Und wir lieben Chirac, weil er Le Pen verabscheut.

„Ich grüße Frankreich, das sich treu geblieben ist, treu seinen großen Idealen, treu seiner universellen und humanistischen Bestimmung. Ich grüße Frankreich, das, wie immer in schweren Zeiten, zum Wesentlichen zurückgefunden hat.“ Vom Fenster des Wahlkampfhauptquartiers streicht Jacques Chirac patriotischen Firnis über den hässlichen Unfall, der Frankreich zugestoßen ist. Chirac und seine Frau Bernadette winken. Wenn sie nicht so traurig aussehen würden, könnte man meinen, dass ein königliches Paar seine Untertanen vom Balkon seines Schlosses grüßt. Frankreich ist zur Monarchie geworden. Ehefrau Bernadette und Tochter Claude, Kommunikationschefin des Elysée, sind Chiracs „Soldaten“ – so bezeichnen sie sich selbst. Sie kämpfen für ihren Mann und Vater. Ohne demokratische Legitimation regieren sie mit, einfach so. Lionel Jospin befand seinen Rivalen für „zu alt, müde, verbraucht von der Macht“. Chirac ist wieder aufgelebt. Das Sofa ist neu bezogen, in den frischen Farben der republikanischen Werte.

Vor ein paar Tagen: Gerhard Schröder springt aus dem Auto. Jacques Chirac stürzt die Treppen des Elysée hinunter, immer zwei Stufen auf einmal. Er eilt, „Gerd“ zu begrüßen. Gerhard Schröder hat seinen Platz soeben an Angela Merkel abgetreten. Die beiden Männer fallen sich in die Arme. Immer wieder merkwürdig, diese unbeholfenen Gefühlsäußerungen von Alphamännchen. Aber endlich einmal ist der Franzose größer als der Deutsche! Angesichts des monumentalen Helmut Kohl, der fast aus seinem dunkelblauen Regenmantel platzte, wirkte der winzige François Mitterrand wie ein Zwerg, der sich fest in seinen beigen Kaschmirüberzieher eingemummelt hatte. Chirac wirkt sehr stolz. „Keine Gefühlsäußerungen jetzt, sonst müssen wir die Taschentücher herausziehen“, sagt Schröder und fügt hinzu: „In meinem politischen Leben und überhaupt in meinem Leben gehört die Zusammenarbeit mit Präsident Chirac zu den glücklichsten Erfahrungen.“ Gerd ist mit seiner Frau Doris und den Töchtern angereist, Chirac mit Bernadette.

Seit dem Irakkrieg sind Jacques und Gerd auf Wolke sieben. Dabei hatte es eine Zeit gedauert, bis das Eis gebrochen war. Zu viel trennte die beiden, politische Heimat ebenso wie soziale Herkunft. Chirac stammt aus dem mittleren Bürgertum und ist durch seine Ehe in die höchsten Kreise der Gesellschaft aufgestiegen. Der Proletarier Schröder ist Sohn einer Putzfrau. Chirac hat an der Elitehochschule ENA studiert; er ist das Ebenbild des makellosen Staatsdieners. Schröder hat verschiedentlich gesagt, dass „die Kultur ihm nicht in die Wiege gelegt wurde“. Er ist Selfmademan. Chirac ist in guten wie in bösen Tagen mit Bernadette Chaudron de Courcel verheiratet, frommer Spross der alten französischen Aristokratie. „Bei uns lässt man sich nicht scheiden!“, erklärt Bernadette, als sie auf die zahlreichen Seitensprünge ihres Mannes angesprochen wird. Der mehrfach geschiedene Schröder wirkt wie ein Chorknabe neben dem Mann, den Eingeweihte als „Stier aus dem Elyséepalast“ bezeichnen. Chirac flirtet bei den französisch-deutschen Gipfeltreffen gern mit Doris, das ist schon zum Ritual geworden. Die Geschichte sagt uns noch nicht, ob er Angela Merkel becircen wird.

Gerd geht. Jacques bleibt uns noch ein wenig erhalten. Er hofft, bis 2007 durchzuhalten. Worin liegt das wahre Geheimnis dieser außerordentlichen Langlebigkeit? Verkörpert er womöglich Frankreich? Schlummert etwa in jedem von uns ein kleiner Chirac? Fasziniert uns vielleicht diese Mischung aus „altem Frankreich“ und warmer Volkstümlichkeit? Diese so vertraute Kombination von guten Manieren und kruder Spottlust? „Was will diese Megäre denn noch alles? Meine Eier auf einem Teller serviert?“, so Chirac über Maggie Thatcher, als die Europaverhandlungen nicht vorankamen. Wir lieben seinen außergewöhnlichen Appetit. Wir lieben es, wenn er sagt: „Außer Fußball und Bier gibt es noch eine Menge andere Dinge für mich!“ Im Grunde ist er eine Karikatur des Durchschnittsfranzosen. Der „Leuchtturm der Völker“ ist weit entfernt vom tristen Alltag: Arbeitslosigkeit – lahmende Konjunktur – gesellschaftliche Verwerfungen. Unser nationales Ego, das zwischen Frustration und unerfüllten Erwartungen hin und her schwankt, bedeckt Chirac mit Fetzen, die unser Selbstwertgefühl heben. Er verwandelt das trübsinnige französische Aschenputtel in eine wunderschöne „souveräne“Prinzessin.

Irgendwann fallen die alten Möbel auseinander. Das präsidiale Gehirn hatte einen ersten Riss zu verzeichnen. Im Frühjahr wurde Jacques Chirac wegen eines „unbedeutenden cerebralen Vorfalls“ ins Krankenhaus gebracht. Das Elysée schwört Transparenz und perfektioniert dabei die Kunst der Untertreibung. Mitterrands Krebserkrankung wurde jahrelang geheim gehalten. Vorige Woche beobachtete ganz Frankreich das leichte Zittern in der linken Hand seines Präsidenten. Wird Jacques Chirac es wagen, 2007 trotz seines dreifachen Handicaps – Scheitern beim Referendum über die europäische Verfassung, vorgerücktes Alter, angeschlagene Gesundheit – noch einmal zu den Wahlen anzutreten?

Schon ist der Wahlkampf in vollem Gange. Die Läufer stellen sich an die Startlinie. Die Sarkozys und Villepins sind nicht mit Glacéhandschuhen angetreten. Sie ersparen dem „Alten“ nichts, so nennt man ihn wie damals de Gaulle. Wie es dem General 1969 nachgesagt wurde, ist er einsam, er versteht sein Land nicht mehr. Und schon macht sich bei uns allen eine seltsame Nostalgie breit. Eines Tages werden wir den Fernseher einschalten und feststellen: „Na so was, Chirac ist nicht mehr da!“ Das wird das Ende eines Zeitalters sein. Ja, eine große Leere wird im Salon unseres Lebens an dem Tag herrschen, an dem ein kräftiger Altwarenhändler das alte Sofa mitnimmt.

Pascale Hugues ist Korrespondentin des französischen Wochenmagazins „Le Point“. Ihr Text wurde von Elisabeth Thielicke ins Deutsche übertragen.

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