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Kultur: Der wahre Wilde

Eine andere Moderne: Bilder des Inders Tagore im Dahlemer Museum für Asiatische Kunst

Sein Name ist vielen geläufig, sein Werk fast keinem: Rabindranath Tagore war der erste Shooting Star der Weltliteratur. Als der 51-jährige Bengale 1912 nach London reiste, kannte ihn im Westen niemand. Der polyglotte Sohn einer Bramahnen-Familie übersetzte rund 100 seiner Gedichte ins Englische, für ihre Veröffentlichung sorgte William Butler Yeats. Ihre nie gehörte Metaphorik faszinierte das Publikum. 1913 erhielt er als erster nichteuropäischer Autor den Nobelpreis.

Bis 1925 erschienen allein in Deutschland 24 Bücher von ihm mit einer Gesamtauflage von rund einer Million Exemplaren. Seinen Ruhm mehrte Tagore durch ausgedehnte Vortragsreisen. Mit langem Gewand, wallender Haarpracht und durchdringendem Blick entsprach er dem Klischee vom Weisen aus dem Orient. Seine Aufrufe zur Versöhnung von westlichem mit östlichem Denken trafen den Nerv einer Zeit, die von Weltkrieg und Revolutionen erschüttert und von Lebensreform-Ideen beseelt war. Tagore schlug seine Zuhörer in Bann, wie es als nächstem Inder erst wieder Shree Rajneesh alias Bhagwan gelingen sollte.

1930 besuchte Tagore zum letzten Mal Deutschland, da flaute seine Popularität allerdings schon ab. Eine Ausstellung seiner Bilder in Berlin, Dresden und München nahm die Kritik wohlwollend, aber verhalten auf. Später gerieten seine Schriften in Vergessenheit, erst in jüngster Zeit wurden einige von ihnen neu übersetzt. In Indien ist sein Rang bis heute unumstritten. Eines seiner Lieder dient als Nationalhymne. Tagore gilt als kultureller Lehrmeister, dessen bildungs- und sozialreformerische Visionen immer noch wegweisend sind. Zum 150. Geburtstag schickt die indische Regierung nun eine Auswahl seiner Gemälde auf Welt-Tournee. 98 sind jetzt in Dahlem zu sehen.

Der Universalgelehrte, der zahlreiche Romane, Dramen und Essays schrieb, Musikstücke komponierte und eine Universität gründete, fand erst spät zur bildenden Kunst. Er begann 1928, mit Tusche und Wasserfarben zu malen. In seinen verbleibenden 14 Lebensjahren schuf er ein gewaltiges Œuvre von rund 2 500 Arbeiten. Alle ließ er unbetitelt, sie sollten unmittelbar auf die Anschauung wirken. Tagore war mit der Weltkunst seiner Epoche vertraut. Er lernte im Ausland die sogenannten Primitiven und die Ismen der Moderne kennen und begeisterte sich für die flächige Ästhetik japanischer Farbholzschnitte. Solche Einflüsse verschmolz er zu einem eigenwilligen Stil, dem seine Herkunft kaum anzumerken ist.

Sein stets gegenständliches Motivspektrum beschränkt sich auf Lebewesen und Landschaften. Die Farbgebung ist karg bis zur Monochromie, wenige Elemente kombiniert Tagore zu variantenreichen Konstellationen, die raffiniert archaisch erscheinen. Gestalten sind auf sparsame Akzente reduziert, die Flächen wirken plan und zugleich durch exzentrische Linienführung rhythmisiert. Zeitgenossen fühlten sich an maskenhafte Gesichter von Munch und Nolde erinnert. In Frankreich reklamierten die Surrealisten Tagore für sich, in Deutschland die Expressionisten. Heutige Betrachter mögen Vorahnungen von Art Brut und Tachismus erkennen.

Nur eins sind diese Bilder nicht: traditionell indisch. Tagore lehnte die bengalische Malschule seines Neffen Abanindranath, die sich am bunt-narrativen MogulStil orientierte, als rückwärtsgewandt ab. Wie mit seinen Texten beschritt er auch als Maler eigene Wege in die Moderne. Vielleicht sind diese unauslotbar vieldeutigen Bilder Tagores bleibender Beitrag zur Weltkultur. Oliver Heilwagen

Museum für Asiatische Kunst, Lansstr. 8 (Dahlem), bis 30. Oktober, Di–Fr 10–18, Sa/So 11–18 Uhr.

Oliver Heilwagen

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