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Auf dem Faulhorn. Herzog Karl August und Goethe während ihrer zweiten Schweizreise. Kolorierter Holzstich um 1860.

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"Der weiße Freitag" von Adolf Muschg: Mit Goethe am Abgrund

In seiner Erzählung "Der weiße Freitag" folgt der Schweizer Autor Adolf Muschg den Schneespuren Goethes auf dem Gotthard - und spiegelt seine krebsgefährdete Existenz in dem Leben des jugendlichen Genies.

Im September 1779 bricht Goethe zu seiner zweiten Schweizer Reise auf, diesmal zusammen mit Herzog Carl August. Quer durch Deutschland geht es nach Frankfurt zu den Eltern, den Rhein herauf nach Straßburg, schließlich in die Alpen. Ihr Ziel ist der Gotthard. Goethe, 30, und Carl August, 22, vitale und geübte Reiter, genießen die mächtigen Panoramen, aber die letzte Herberge vor dem Pass erreichen sie erst im November. Da ist die Route über den Furka-Gletscher frisch verschneit, Helligkeit knapp – die Abenteurer riskieren den Tod. Wären sie erfroren, hätte Goethe als Autor einiger Gedichte, des „Urfaust“ und des „Werther“ wohl Epoche gemacht, aber die Klassik hätte Schiller allein stemmen müssen: Was für eine Vorstellung!

Doch der Aufstieg gelingt. Bleibt die Frage: Zu welchem Zweck? Was erhofft der Dichter für sich und seinen Fürsten von diesem „weißen Freitag“, warum riskiert er beider Leben (und das des Gepäck tragenden Dieners und zweier Bergführer)? Die Antwort, so der 1934 geborene Schweizer Autor Adolf Muschg, lässt sich nicht in einen Satz pressen, sondern muss erzählt werden, und kontrastiv eingewebt darin das eigene, bedrohte Leben. Während sich Goethe und die Seinen auf der Furka abmühen, steigt ihnen, freilich „unzeitige“ 237 Jahre später und bequemer, die Erzählerfigur von der anderen Seite entgegen. Kein lebensgefährliches, aber doch auch ein Wagnis. Wer in einem Atem von Goethe und sich selbst berichtet, riskiert den Verdacht, sich zu überschätzen. Warum spiegelt der 82-jährige Autor seine durch Krebs gefährdete Existenz in der des jugendlichen Genies?

Ein Buch für Goethe-Gernhaber

Die einfachste Antwort lautet vielleicht „Warum nicht“, solange es ohne Peinlichkeit geschieht, also bescheiden und nicht in Analogie. Goethes kühne Gewissheit, „symbolisch“ zu leben, sein Vertrauen in den Schutz des „oberen Leitenden“, maßt sich niemand mehr an. Der, dem das Ende vor Augen steht, kann nur noch begrenzt steigen, und so führt sich Muschg mit einem schlichten Sturz die Treppe hinunter in die Doppelgeschichte ein. In lauter Kurzkapiteln wird sie entfaltet, als Großaufnahme oder Schattenriss; hier Dialoge, dort Reflexion; die weiße Landschaft, die rätselvolle Historie. Täuschend einfache Sätze verknüpfen sich zu einer oft paradoxen Folge, sodass einer dem anderen den Boden zu entziehen scheint. Das ist, als Erzählweise, nicht bequem, aber stimulierend.

Auf diese flackernde Art verharren die Toten in schöner Distanz, über die Schärfe ihrer Konturen entscheidet auch der Leser. Viel Wissen blitzt durch den Text, nicht auf fachlich-beschwerende Art, sondern zur Erhöhung des Vergnügens. Für das, was nicht überliefert ist, muss die Fantasie einstehen, und da gibt es Ausrutscher. Muschgs Skizze der Abende, die Goethe und Frau von Stein miteinander verbrachten, als Scherz gedacht, wird niemanden erheitern, doch andere schwierige Kunststücke, etwa auf drei knappen Seiten Carl Augusts Ehe nachzuzeichnen oder ein Gespräch zwischen dem Herzog und seinem frisch ernannten Geheimrat bei Mondenschein, gewinnen das Herz.

Überhaupt ist das ein Buch für die Goethe-Gernhaber, nicht für die Krittler. „Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe“, heißt es in den „Wahlverwandtschaften“. Die Kapitel über Muschgs Kindheit, Alter und Krankheit werden jene Leser berühren, die Muschg durch sein langes Schriftstellerleben gefolgt sind. Trotz Todesnähe und allerlei Bitterkeiten ist der Ton leicht, der Gang locker, und das ist wohl die gescheiteste Art, den eigenen weißen Freitag immer wieder zu bestehen.

Adolf Muschg: Der weiße Freitag. Eine Erzählung. Verlag C. H. Beck, München 2017. 251 S., 22,95 €.

Gisela Trahms

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