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Historische Schichtentorte. Die Altstadt von Jerusalem, vom 1967 im Sechstagekrieg eingenommenen Ölberg aus gesehen.

© Foto: Ahmad Garabli/AFP

Deutsch-Israelische Literaturtage Berllin: Nur weg mit den Sauertöpfen!

Benjamin Netanjahus Rhetorik setzt auf die Ausschließung der Anderen, sagt die israelische Autorin Maayan Ben Hagai. Impressionen aus Jerusalem.

Der Junkie, dem man noch immer ansieht, dass er mal blendend ausgesehen haben muss, und der spitz zulaufende Schuhe trägt, läuft wieder durch den Waggon der Straßenbahn in Jerusalem. „Eine wohltätige Spende“ verlangt er von einer strenggläubigen Frau, „etwas Geld, um Essen für die Kinder zu kaufen“. Einem Jugendlichen mit gehäkelter Kippa vertraut er an: „Ein Araber hat mir mein Geld gestohlen.“

Der schaut ihn verlegen an, und der durch die eigenen Worte in Rage versetzte Junkie ruft erbittert: „Guck dir das an, nur weil ich Jude bin, hat er mich beklaut.“ Und ehe die Bahn die nächste Haltestelle erreicht und er mit leeren Taschen wieder aussteigt, blafft er uns alle an: „Behandelt man so einen ehemaligen Offizier?“

Der bettelnde Junkie muss, genau wie ein Werbetexter oder ein um seine nicht nur politische Zukunft kämpfender Ministerpräsident (hinter Gefängnismauern oder außerhalb davon), mit scharfen Sinnen und einer gehörigen Portion Wagemut den Schwachpunkt derjenigen freilegen, von denen sein Leben abhängt. Muss die Stellen orten, unter denen sich eine Schicht aus Mitgefühl, Schmerz oder Angst offenbart.

Dabei schreckt er nicht davor zurück, sich zum Gespött zu machen, unaufrichtig und derb zu wirken. Wesentlich ist die „Motivierung zum Handeln“, denn er hat nur einen Sekundenbruchteil lang Gelegenheit, uns dazu zu bringen, die Hand in die Hosentasche zu stecken, nach der entsprechenden Auslage im Supermarkt oder dem richtigen Wahlzettel hinter dem Sichtschutz der Wahlkabine zu greifen.

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie der Junkie als junger Mann ausgesehen haben mag. Er hat etwas Verwöhntes, als er zunehmend aufgebracht durch den Straßenbahnwaggon streicht. Ich habe kein Mitleid mit dir, halte ich ihm insgeheim vor, wer bist du, dass du glaubst, mir etwas befehlen zu können? Warum, denkst du, sollen wir dir glauben?

Dann fällt mir ein, dass meine neunjährige Tochter mir einmal, beim Anblick eines anderen Bettlers, zugeflüstert hatte: „Mama, warum geht er nicht arbeiten?“ Wie peinlich berührt ich war. Du erziehst sie zu streng, zu moralisierend, sagte ich mir, was weißt du denn schon von seinem Leben?

Auf jeden Erfolg kommt eine Bedrohung

Nur rund einen Kilometer von der Straßenbahnhaltestelle entfernt hielt Benjamin Netanjahu im Oktober 2017 zur Eröffnung der Wintersitzungsperiode der Knesseth seine berühmte „Sauertopfrede“. Ein erstes Feuerwerk anlässlich der Festivitäten zum 70-jährigen Bestehen des Staates Israel gewissermaßen. Wie üblich begann er mit der Aufzählung von Ereignissen in der Geschichte des jüdischen Volkes und stellte sich selbst als letzten in eine Reihe großer Staatsmänner, die die Rückkehr des jüdischen Volkes in sein Land vorangetrieben hatten.

Danach zählte er seine Erfolge und Errungenschaften auf: Cyber und Hightech, eine nie da gewesene Entwicklung im Verkehrswesen, welche „den Begriff der Peripherie vergessen macht“, militärische Stärke und florierende außenpolitische Beziehungen, einen Rückgang der Arbeitslosigkeit, eine Zunahme der Touristenzahlen und Satelliten im All.

Den Regeln des Genres getreu folgten auf die Erfolge sogleich die ewig gleichen Bedrohungen: Kriege, Arbeitsmigranten und illegale Einwanderer, die Israels Grenzen belagern, Iran und sein Kernwaffenprogramm, radikaler Islam und Antisemitismus. Die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran durch Donald Trump wurde als Kirsche auf dem Sahnehäubchen der Torte präsentiert, mit einem vor Glück strahlenden Gesichtsausdruck, in den sich Schadenfreude mischte. Bitte schön, Netanjahu hatte seinen Wählern bewiesen, er war ein Staatenlenker, der den Großmächten ihre Tagesordnung diktierte.

„Israels Bürger wissen, Israel ist ein wunderbares Land“, frohlockte der Premier. Wenn sie aus dem Ausland zurückkehrten, würden alle sagen: „Nichts geht über unser Land!“, stellte Netanjahu fest und schien die Heimatliebe der Bürger zu ihrem Land zu seinem ganz persönlichen Verdienst machen zu wollen. „Doch all dies“, fuhr er fort, „vermag nicht die heimische Depressionsindustrie zu beeindrucken.“ Und ging zum Angriff über: Die Sauertöpfe im Lande hätten immer zu mäkeln, alles gehe vor die Hunde – und das zwischen ihrem nächsten Flug nach Berlin und der Rückkehr von einem Wochenende in London.

„Die Sauertöpfe bleiben auf ewig sauertöpfisch, nur weil wir keine Siedlungen geräumt haben“, verspottete er all jene, die einen territorialen Kompromiss zur Beendigung des Konflikts fordern, und stellte sie als die undankbare Verwandtschaft dar, der es schlicht an Lebensfreude fehlt. Wie im Fall des Bettlers, der den Fahrgästen in der Straßenbahn kein Geld für den nächsten Schuss abgeschwatzt bekommt, ist jeder, der Netanjahu nicht unterstützt, automatisch verächtlich. Und wie das gesamte jüdische Volk ist auch der Regierungschef permanenter Verfolgung ausgesetzt, von außen und innen gleichermaßen.

Auch Netanjahu zitiert gerne Taxifahrer

Klischees sind der Energydrink jedes Politikers. Als Kontrast zu den Miesmachern schilderte Netanjahu das Gespräch mit einem Taxifahrer. Angeblich sind Taxifahrer ja überall auf der Welt die authentischsten Repräsentanten ihres Volkes. „Wir sind mittellos ins Land gekommen“, habe der Taxifahrer erzählt, „selbst die Ringe haben sie uns von den Fingern gezogen, bevor wir aufgebrochen sind. Und hier sind wir erst mal in einem Durchgangslager gelandet, haben aber hart gearbeitet und sind vorangekommen, und heute ist mein Sohn Ingenieur und meine Tochter Ärztin. Israel ist unvergleichlich!“

Netanjahu verkündete schließlich mit viel Vibrato in der Stimme, dass junge Israelis auf der Zufriedenheitsskala aller Industriestaaten den zweiten Platz belegten. Denn für ihn, den Garanten des nationalen Glückszustands, zählt nur das innere Gefühl. Objektive Parameter zur Bemessung der Lebensqualität sind irrelevant.

Wie der Auftritt des Junkies ist auch Netanjahus Populismus immer ein Schauspiel, das sich genussvoll dem Trash hingibt, zugleich aber todernst, übertrieben und grotesk daherkommt. Denn anders als der bettelnde Junkie verfügt Netanjahu über Powerpoint-Präsentationen, über Fotos mit Soldaten und über Hubschrauber an der Nordgrenze.

Schwer zu sagen, ob Netanjahus Motive frei von Ideologie sind und nur von dem Bedürfnis herrühren, sich die Droge der Macht zu sichern. Oder ob der Sohn eines Historikers, dessen Persönlichkeit in einem Schmelzofen persönlicher und nationaler Traumata geformt wurde, an die eigenen Losungen glaubt und seine populistische Rhetorik nur ein Mittel ist, hinter dem sich Überzeugung und das Gefühl einer Berufung verbergen. Möglich, dass die Antwort eines Sowohl-als-auch die richtige ist.

Die meisten Bewohner Jerusalems sind nationalreligiös oder orthodox bis ultraorthodox. Araber stellen etwa ein Drittel aller Einwohner, und viele von ihnen nutzen die Stadtbahn, aber sie besitzen nicht die israelische Staatsbürgerschaft und damit auch kein Stimmrecht für die Knesseth. Neueinwanderer aus Äthiopien, Palästinenser, Linke, Flüchtlinge, Angehörige des Mittelstands, die sich Sorgen um den Zustand der staatlichen Organe machen, die eine funktionierende Verwaltung und ein korruptionsfreies Klima fordern, werden derweil geächtet. Für Netanjahu sind sie alle keine typischen Israelis, sie lassen die anderen Äpfel in der Kiste sauer werden.

Begeisterung für die neuen Straßen - auch ohne Führerschein

Kurz vor Netanjahus „Sauertopfrede“ habe ich meine Freundin mit dem Auto aus Jerusalem nach Beit Shemesh gefahren. Beit Shemesh wurde 1950 als Durchgangslager für Neueinwanderer gegründet und wird im Wesentlichen von Einwanderern aus Nordafrika und dem Irak bewohnt. Obwohl zwischen Jerusalem und Tel Aviv gelegen, gilt die Stadt nach sozioökonomischen Maßstäben als an der Peripherie angesiedelt.

Die überwiegende Mehrheit der Einwohner hat bei den letzten Wahlen für Netanjahus Rechtskoalition gestimmt. Und zurzeit erlebt die Stadt eine rasant zunehmende Strenggläubigkeit. Die fünf Kinder meiner Freundin quetschten sich auf der Rückbank und ich fühlte mich zunehmend gestresst, als die Navigations-App Waze den Dienst versagte.

Meine Freundin, ganz aufgeregt über die neu eröffnete Straße, fing an, erst Gott, dann den Staat Israel und schließlich die an seiner Spitze Stehenden zu preisen. „Wie schön, neu und modern sie unser Beit Shemesh gemacht haben“, rief sie mit echtem Pathos.

„Du hast kein Geld, um einen Führerschein zu machen, hast kein Geld für ein Auto und hängst komplett vom maroden öffentlichen Nahverkehr ab. Worüber genau begeisterst du dich gerade?“ – „Ich liebe dich“, sagte meine Freundin lachend, und ich erwiderte, ich sie auch. Und dachte bei mir, dass ich sie im Leben nicht verstehen werde.

Über die Autorin und die Deutsch-Israelischen Literaturtage

Maayan Ben Hagai, geboren 1970, wuchs im Kibbutz Afiq in den Golanhöhen auf und lebt in Jerusalem. Sie studierte Komparatistik, Kunstgeschichte und Sozialarbeit und arbeitete mit benachteiligten Jugendlichen und äthiopischen Immigranten. Seit mehreren Jahren ist sie für die Organisation Emek Shaveh tätig, die sich – unabhängig von Nationalität und Religion – für einen gerechten Umgang mit Archäologie und kulturellem Erbe als öffentliches Gut einsetzt.

Ben Hagai hat zwei Romane, Kurzgeschichten und ein Jugendbuch veröffentlicht. Im Rahmen der Deutsch-Israelischen Literaturtage tritt sie am Sonntag, den 8. September um 13.30 Uhr im Deutschen Theater Berlin auf. Markus Lemke hat ihren Text aus dem Hebräischen übersetzt.

Die Deutsch-Israelischen Literaturtage widmen sich dieses Jahr dem Umgang mit Populismus und Polarisierungen. „Lauter, immer lauter?“ sind die beiden Veranstaltungen am 4. und 8. September überschrieben.  Zu Gast sind Dov Alfon, Friedrich Ani, Sami Berdugo, Maayan Ben Hagai, Franzobel, Dilek Güngör, Mati Shemoelof und Tijan Sila.

Mit Blick auf die Wahlen in Israel, Österreich und Ostdeutschland diskutieren die acht Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Israel und Österreich über rechtspopulistische Herausforderungen und lesen aus ihren Werken. Eröffnung ist am Mittwoch um 20 Uhr im Deutschen Theater Berlin. Am Sonntag um 12 Uhr geht es in der Heinrich-Böll-Stiftung weiter. Details unter boell.de/literaturtage oder goethe.de/literaturtage. Alle Lesungen und  Gespräche finden in  deutscher und hebräischer Sprache mit Simultanübersetzung statt.

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