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Deutsche Dialoge (1): Das zweite Leben

Bilder im Kopf: Die Fotografinnen Herlinde Koelbl und Ute Mahler über den Mauerfall und ihren Blick auf die Wende.

Frau Koelbl, Frau Mahler, Sie haben beide die Mauer fotografiert. Erinnern Sie sich noch, wo Sie am 9. November 1989 waren?


HERLINDE KOELBL

: Ich erinnere mich nur, dass ich es selbst am Tag danach für eine Falschmeldung hielt. Aber dann gab es diese Bilder von Menschen auf der Mauer. Das sind Ikonen der Geschichte, Bilder, die ins kollektive Bewusstsein eingehen. Das ist ja die Frage: Welche Bilder sind in der persönlichen Aussage und im geschichtlichen Zusammenhang so stark, dass sie bleiben? Wie das Bild von einem nackten vietnamesischen Mädchen, das vor dem Napalm flieht.

Wann haben Sie dann fotografiert?

KOELBL: Ich habe schon vor dem Mauerfall viel im Osten aufgenommen, Städteporträts von Leipzig, Halle, Eisleben, Wittenberg für Magazine. Dabei habe ich das Land gut kennengelernt, die Angst der Menschen, die Reglementierung. Für eine Bewilligung musste exakt aufgelistet werden, was man fotografieren will. Nach Berlin kam ich erst im Frühjahr 1990; dort habe ich dann die Mauer fotografiert, als noch alles kahl war.

Frau Mahler, hätten Sie sich da begegnen können, an der Mauer?



UTE MAHLER: Nein, ich habe dort kaum fotografiert. Merkwürdigerweise gibt es von vielen DDR-Fotografen keine wirklich wichtigen Aufnahmen vom Mauerfall oder der Zeit danach. Es gibt für mich nicht das eine Bild, die Ikone, sondern eine Überlappung vieler Bilder. Hinzu kommen die Fernsehbilder. Mir kommen noch heute die Tränen, wenn ich sie sehe. Ich bin nicht sentimental, aber da dreht sich ein Schalter in mir um.

Haben Sie damals die Kamera mitgenommen, als Sie sich von Oranienburg nach Berlin aufgemacht haben?


MAHLER: Die Kamera war dabei. Wir sind mit dem Auto nur bis zur Bornholmer Straße gekommen. Dann ging nichts mehr, weil alle unterwegs waren. Nach zwei Stunden ist mein Mann zu Fuß mit der Kamera aufgebrochen. Ich blieb im Auto und habe es im Stau bis 4 Uhr morgens auf den Ku’damm geschafft. Aber auch dort wollte ich nicht fotografieren, denn ich spürte: Das bekomme ich nicht in den Blick.

Kennen Sie dieses Dilemma auch, Frau Koelbl, dass man nicht fotografieren kann, wenn die Distanz fehlt?

KOELBL: Ja, man fotografiert anders, wenn man Teil von etwas ist. Für gute Bilder braucht es eine seltsame Mischung aus Nähe und Distanz.

MAHLER: In meinem Leben habe ich viele Fotos nicht gemacht, weil ich nur gestaunt habe.

KOELBL: Das kenne ich. Schließlich will ich meine Umgebung auch noch erfahren, leben, riechen, schmecken.

MAHLER: Sonst entsteht nur ein Schnappschuss, ein flüchtiges Bild. Fotografieren bedeutet Arbeit.

Haben Sie schon vor dem Fall der Mauer voneinander gewusst?

KOELBL: Ich habe zwar in Ostdeutschland fotografiert, kannte aber die Fotografen von drüben kaum.

MAHLER: Ich kannte Sie. Wir hatten ein enormes Bedürfnis nach Informationen in diesem Land, in dem uns viele Dinge verwehrt waren. Wir wollten auf dem Laufenden sein. Jetzt weiß ich von den unglaublich vielen interessanten Dingen. Es wäre damals ein Zufall gewesen, wenn Sie mich entdeckt hätten.

KOELBL: Ich werde nie vergessen, welche Erleichterung es war, als ich das erste Mal die DDR-Grenze wieder hinter mir ließ. Ich habe da zum ersten Mal begriffen, was Freiheit und Demokratie bedeutet. In Prag oder der Tschechoslowakei habe ich mich dieser Willkür nie so ausgesetzt gefühlt. Plötzlich konnte es heißen: Anhalten! Papiere! Raus!

Fotografen wie Thomas Höpker klagen darüber, dass die DDR so verdammt unfotogen gewesen sei. Stimmt das?

MAHLER: Ich kann da nicht zustimmen. Für mich gab es viele Motive.

KOELBL: Für jemanden wie mich, der von außen kam, war die DDR spannend: diese grauen Häuser, wie die Leute angezogen waren. Alles war anders, exotisch und sah doch ähnlich aus wie in der Bundesrepublik. Überall hingen Schilder, Slogans, Fahnen. Ich war einmal kurz vor dem 1. Mai in Berlin, als alles beflaggt war. Damals hätte ich mir eine Wiedervereinigung nicht vorstellen können, schon gar nicht in einem solchen Tempo.

Wie haben Sie diesen Prozess erlebt?


KOELBL: Ich war unmittelbar nach der Wende viel in Ostdeutschland unterwegs und habe für den Merian-Verlag Menschen porträtiert und interviewt, die sich selbstständig gemacht haben. Ein Paar in Frankfurt (Oder) erzählte mir, dass es sofort nach Italien reisen wollte. Eine andere Frau klagte: „Früher haben wir so viel gemeinsam gemacht, das Wochenende, die Abende mit den Kollegen verbracht. Und jetzt unternehmen wir nichts mehr miteinander, weil wir Konkurrenten geworden sind.“ Mir ist dabei klar geworden, dass mit dem Mauerfall auch der Zusammenhalt für die Menschen zerbrochen ist.

MAHLER: Ich bezweifle, dass es vorher eine funktionierende Gemeinschaft war. Sie entstand nur aus der Situation, dass man immer zusammen war, im Betrieb, in der Brigade. Es gab die Hausgemeinschaften, den Urlaub im FDGB- Ferienheim. Man hatte kaum die Möglichkeit, alleine zu sein. Ich bin mir nicht sicher, wie gewollt das von den Leuten war.

War diese gesellschaftliche Veränderung auch an den Menschen ablesbar?

KOELBL: In der ersten Zeit konnte man i den Unterschied an der Kleidung erkennen: ostdeutsch, westdeutsch. Und es gab eine andere Körpersprache.

MAHLER: In den Gesichtern hatte sich etwas verändert: Die Unbefangenheit war verschwunden. Das verlorene Vertrauen hat meine Arbeit komplizierter gemacht, es wurde schwieriger, die Menschen wieder zu öffnen.

Wie sind sie Ihnen begegnet?

MAHLER: 1991 bin ich mit der Hamburger Journalistin Birgit Lahann fünf Wochen lang durch den Osten gefahren, um die Veränderungen aufzuspüren. Wir fuhren mit einem großen Auto mit Hamburger Kennzeichen, auf das die Leute schon auf der Straße merkwürdig reagierten. Als wir dann ins Gespräch kamen, haben sie uns die DDR auf eine Art zu erklären versucht, bei der ich dachte: Das stimmt doch gar nicht. Sie glaubten, ich sei ebenfalls Westdeutsche. Ich habe dann immer gesagt: „Komm, ich bin doch auch von hier! Und kenne doch alles.“ Das tat sehr weh, dieser Versuch, unser Leben so anders erklären zu wollen.

Inwiefern hat sich Ihre Arbeit durch den Mauerfall verändert?


MAHLER: Enorm. 1989 hatte ich erreicht, was in der DDR für mich als Fotografin ohne Zugeständnisse möglich war. Ich habe freiberuflich gearbeitet, Rockmusiker und Mode fotografiert. Bei der Zeitschrift „Sibylle“ hatten wir großen Spielraum, denn das Magazin wurde nicht so richtig ernst genommen und deshalb kaum kontrolliert, eine Nische. Es ging mir weniger ums Modische, mehr ums Fabulieren in Bildern. 1985/86 dachte ich: Oh Gott, jetzt bin ich schon ein paar Mal in diesem Fass herum, was kommt jetzt? Nach dem Studium in Leipzig wollte ich doch Reporterin werden und zu den Brennpunkten in der Welt. Ich wollte etwas bewegen.

Welche Vorbilder hatten Sie, die Magnum-Fotografen?


MAHLER: Natürlich. Aber für mich war es nicht möglich, als Reporterin zu arbeiten. In der DDR gab es nur drei Illustrierte mit fest angestellten Fotografen. Da kam ich nicht rein. Ich hätte Karriere machen können, wenn ich mich politisch engagiert hätte. Aber das kam nicht infrage, obwohl ich gerne nach Vietnam oder Chile gefahren wäre. 1990 stand plötzlich die Welt offen, und ich habe mich in die journalistische Fotografie gestürzt, die Modefotografie völlig vergessen. Die Redaktionen waren neugierig auf mich. Ich durfte zeigen, was ich kann. Ich habe viel für den „Stern“ gearbeitet und bin ständig gereist. Ich fand es toll, nicht zu wissen, wo ich in drei Wochen bin. Aber es war auch schwer, denn ich war damals schon vierzig Jahre alt.

KOELBL: Das ist doch kein Alter! Ich bin mit 41 mit dem Greyhound-Bus durch Amerika gefahren und wusste am Morgen nie, wo ich am Abend schlafe.

MAHLER: 1990 fing für mich mein zweites Leben an. Die besten Bilder stammen aus dieser Zeit.

KOELBL: Manchmal ist man im Nachhinein überrascht, was man bekommen hat. Auf dem Foto ist mehr drauf, als man selbst gesehen hat. Oder man fühlt es im Prozess: Jetzt läuft’s, jetzt hab ich’s.

MAHLER: Man spürt den Augenblick, wenn man etwas eingefangen hat, weil er überraschend ist. In der Fotografie braucht man diesen magischen Moment.

Wo suchen Sie sich heute Ihre Themen?


MAHLER: Ich fotografiere, um etwas Neues vom Leben zu erfahren. 1994 habe ich Obdachlose fotografiert, weil ich wissen wollte, wie Menschen so öffentlich leben können, in Kälte und Unsicherheit. Drei, vier Jahre lang habe ich eine Gruppe begleitet, obwohl ich wusste, dass die Bilder niemand druckt. Aber mich hat es interessiert, das reichte.

KOELBL: Ich nehme manchmal Worte hinzu, setze die Filmkamera ein, erweitere mein Werkzeug. Für mich öffnen sich dadurch neue Türen, um das Denken, den Geist einer Person darzustellen, wie bei meinen politischen Porträts.

Sehen Sie sich als Chronistinnen?


MAHLER: Wir eröffnen am 13. August im Haus der Kulturen der Welt die Ausstellung „Ostzeit“ mit Arbeiten von vier Ostkreuz-Fotografen. Wir erzählen subjektiv unsere fotografischen Geschichten aus der DDR. Dazu gibt es ein gleichnamiges Buch, denn wir haben das Gefühl: Es gibt 17 Millionen Sichten auf die DDR, ebenso viele wie Menschen; jeder hat dieses Land anders empfunden. Aber ich möchte meiner Enkelin sagen können: „Sieh mal, so war das. Damit du weißt, woher wir kommen.“ Heute, 20 Jahre später, empfinde ich mich tatsächlich als Chronistin.

KOELBL: Harald Martenstein hat einmal geschrieben: „Herlinde Koelbl schreibt am Roman einer Epoche wie früher die großen Romanciers.“ Da ist etwas dran. Aber wenn man sich vornimmt, Chronistin seiner Zeit zu sein, funktioniert es nicht. Man muss an den gesellschaftlichen Veränderungen interessiert sein, ein echtes Bedürfnis haben, in sie einzudringen. Dann kann etwas entstehen.

Das Gespräch führten Nicola Kuhn und Kai Müller.
 

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