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Kultur: Deutsche Erstaufführung: Die Gunst der Komödie

Wie viele Chancen hat der Mensch? Du lebst nur zweimal, meint der Schöpfer von James Bond; das ist die harte Variante.

Wie viele Chancen hat der Mensch? Du lebst nur zweimal, meint der Schöpfer von James Bond; das ist die harte Variante. In den höheren, weiteren Künsten liebt man mehr das Triptychon, die Dreifaltigkeit. Da ist das Leben eine Reise: nach Damaskus oder dem weißen Wal hinterher, zu den Sternen oder in den eigenen Kopf, bergauf (mit Herrn Sisyphos) oder abwärts (sowieso). Variante zwei, nach dem Epos und der Philosophie, ist die Farce. Da ist das Leben eine Hühnerleiter: kurz und beschissen. Der dritte Fall ist der Fight, der alle übrigen Varianten mit einschließt, also den Weltkrieg bis zum Liebeskrieg oder Ehekrach. Im Theater wiederum, das Weltraum und Seelenkammer vereint, findet der Krieg im Saale statt, am besten: als Zimmerschlacht.

Ein Ehepaar, später noch ein zweites Paar und das Ganze im Wohnzimmer, ein Gemisch aus Familienzwist und Berufskonflikt, Paare als Kombattanten - in diesem Rahmen wirken die Waffen sehr konventionell. Doch bei Yasmina Rezas "Drei Mal Leben", der Komödie des Jahres, die nach Luc Bondys triumphaler Uraufführungsinszenierung in Wien (Tsp. vom 31. 10. 2000) jetzt im Berliner Renaissance-Theater ihre gleichfalls umjubelte deutsche Premiere hatte, ist neben dem Gewohnten vieles anders.

Schon der erste, völlig harmlose Satz wird zum Sprengsatz, auch fürs Zwerchfell. Dabei ist noch gar nichts passiert. Abends, eine Frau im Bademantel liest in ihrem Couchsessel vorm Schlafengehen noch ein paar Akten, und der Mann kommt herein und sagt nur vier Worte: "Er will einen Keks." Und auf Anhieb Gelächter. Schneller hat ein Autor in der Geschichte des Theaters wohl noch nie sein Publikum gewonnen - und sofort eine Situation geschaffen, die zwischen Witz und Banalität jeden möglichen menschlichen Abgrund öffnet. Im Off ein Kind, das nicht einschlafen will, im Vordergrund die genervten Eltern; ein Keks nach dem Zähneputzen? Später gar ein Apfel, für die Frau & Mutter ein Erziehungsfehler, für den Mann kein Drama: "Was ändert ein kleiner Apfel am ewigen Lauf der Dinge?"

Udo Samel alias Henri stellt diese Frage in Felix Praders Berliner Inszenierung tatsächlich so väterlich besorgt, so kindlich schmollend, als hätte er nie von dem ersten Apfeldrama der Menschheitsgeschichte gehört. Samel spielt einen Tor, der dennoch an den Portalen des Universums forscht; als Astrophysiker ist er der Gestalt Schwarzer Löcher auf der Spur. Und scheint heute Abend unrettbar in ein irdisches Existenzloch zu fallen. Erst platzen Hubert Finidori, Henris Vorgesetzter im Forschungsinstitut, und seine Frau Ines dank einer Datumsverwechslung einen Tag früher als geplant als Dinergäste ins Haus, worauf das Paar Henri & Sonja außer ihrer Bestürzung und einigen Flaschen weißem Burgunder nur Chips und Fingers anzubieten hat. Immerhin will man auch so auf Henris nächste Woche bevorstehende Veröffentlichung seiner Arbeit "On the flatness of galactic halos" anstoßen. Da lässt Hubert Finidori, ein etwas eitler Pfau von Physiker (und Macho von Mann), gegenüber dem noch keksapfelkampfmürben Henri fallen, dass er just diesen Morgen beim Blättern im Netz auf irgendeine Website-Ankündigung zum nämlichen Thema gestoßen sei: Ein mexikanischer Kollege habe da wohl schon vorgelegt. Aber halo.

Das kommt beim Wein und Knabberzeug, ganz beiläufig, aus der Mördergrube des Herzens. Wird zum intellektuellen Heckenschuss. Drei Jahre hat Henri nichts publiziert, und jetzt droht die wissenschaftliche Epigonie. Finidoris Trost: er habe doch eine feste Stellung. Darauf erwidert Henri, was es denn Entsetzlicheres gebe, als eben das zu sein: "Ein unkündbarer Versager!"

Eine Szene wie aus einer frühen Botho-Strauss-Komödie. Tschechow und Strauss, nicht etwa Feydeau oder der elegante Boulevardier Sacha Guitry, sind die Vorbilder von Yasmina Reza, der Pariser Autorin (und Schauspielerin), die seit ihrem Stück "Kunst" weltweit zur erfolgreichsten Dramatikerin geworden ist. Und mit "Drei Mal Leben" hat sie das Genre der ehelichen und paarweisen Zimmerschlacht, von Strindbergs "Totentanz" über Albees "Virginia Woolf" bis zum letzten Kroetz wahrlich kampferprobt, noch einmal um eine quasi-nukleare Nuance revolutioniert. Dabei liegt das Besondere nicht schon in der Variation der Geschichte. Formal an die Dramaturgie von Tom Tykwers "Lola rennt" erinnernd, wiederholt Reza die Grundsituation in zwei Versionen, worauf sich durch kleine Veränderungen von Tönen und Reaktionen die Kräfteverhältnisse immer wieder verschieben: Aus Henri, dem Unglücksraben, wird melancholisch-ironisch eine Seelenfriedenstaube, das finidorische System der Überheblichkeit bröckelt, Huberts mit sublimem Sadismus gedemütigte Frau Ines gewinnt ihre alkoholische Souveränität, und Sonja, die Ichstärkste im Quartett, entkrampft sich mehr und mehr.

Rezas Raffinesse ist: Die Komödie der Naturwissenschaftler gerät selbst zum sozialen, psychologischen Experiment - und aus boulevardflachen Typen werden in "Drei Mal Leben" allmählich dreidimensionale, gleichsam kubistisch vielgesichtige Menschen. Wobei Reza in der ersten Episode in gut zwanzig Minuten eine Katastrophenfülle schafft, für die StrindbergIbsenHauptmann ein ganzes Drama brauchen. Da ist schon alles zertrümmert, die von Dürrenmatt als Ziel formulierte "schlimmstmögliche Wendung" ist bereits eingetreten, und jetzt eigentlich beginnt das Endspiel nach dem Ende: als fabelhafte Umkehrung der üblichen Spannungsdramaturgie.

Das alles funktioniert auch in Felix Praders Inszenierung, dank Udo Samels Geistesgegenwart und Delikatesse, dank der resoluten Vernunft und gestischen Sicherheit Suzanne von Borsodys als Sonja. Imogen Kogges statiöser Ines fehlt indes schon ein wenig die neurotische Verletztheit der Figur - und wo Sven-Eric Bechtolf als Hubert Finidori in Wien einen blasierten Kotzbrocken von aasigem Charme hinlegte, da steht in Berlin Sylvester Groth eher als steifer Hänfling da.

Hier fehlt es an einer die Oberfläche durchdringenden Regie. Prader lässt in Werner Hutterlis sterilem Bühnenbild zu schnell, zu auswendig (wie: vom Blatt) spielen. Kaum ein Innehalten, schon beim Klingeln des unerwarteten abendlichen Besuchs gibt es kein überraschtes Zögern. Da geht vieles nur am Schnürchen und nicht unter die Haut. Oder hapert im Detail: Irgendwann spielt beispielsweise Huberts übermodische Krawatte eine Rolle, doch der steckt in einer so hochgeknöpften Anzugsweste, dass die Krawatte fast unsichtbar bleibt... Diese Aufführung nutzt die Gunst der Komödie. Ihre Kunst aber wird man in Berlin erst beim Theatertreffen mit Bondys genialer Wiener Inszenierung erleben.

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