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Yüksel Ergin betreibt mit ihrem Mann die letzte Berliner Videothek für türkische Filme im Wedding.

© Marvin Girbig

Deutsche-türkische Filmkultur: Das Yeşilçam-Kino als Draht in die Heimat

In den siebziger Jahren entstand in West-Berlin eine lebendige deutsch-türkische Filmkultur. Eine Spurensuche mit dem Filmhistoriker Can Sungu.

Die frühesten Spuren der deutsch-türkischen Filmkultur im alten West-Berlin sind heute nicht mehr wiederzuerkennen. Das von Zuhal Özver betriebene Kino Helo in der Dresdener Straße war 1975 das erste Berliner Kino, das ein durchgängiges türkisches Programm zeigte; heute steht an der Stelle das Babylon. Kreuzberg war damals das Zentrum der Film-Community, gleich um die Ecke in der Kottbusser Straße hatte Berlins Bunte Bühne ebenfalls türkische Filme im Programm.

Zuhal Özver übernahm später noch das riesige, inzwischen nicht mehr bestehende Humboldt-Kino im Wedding. Und der ehemalige Lehrer Kazım İsmailçebi verwandelte das Clou in der Reinickendorfer Straße ins Kino Maksim. In einer Aktion ließ İsmailçebi die Kinder der Nachbarschaft die 350 Kinositze bemalen.

Die 80-seitige Buch “Bitte zurückspulen”, das in Zusammenarbeit des 2014 im Wedding gegründeten Kulturvereins bi’bak (Türkisch für “Schau mal”) mit dem Verlag Archive Books entstanden ist, erinnert an diese zwischen 1965 und 1990 lebendige Szene. Die Publikation basiert auf einem laufenden Forschungsprojekt der bi’bak-Gründer*innen Can Sungu und Malve Lippmann zur Geschichte der deutsch-türkischen Film- und Videokultur in West-Berlin.

Ihre liebevoll gestaltete Oral History mit Zeitzeug*innen und Videothekar*innen stellt ein wichtiges Dokument dar, die filmwissenschaftlichen Beiträge und das Archivmaterial (Werbeanzeigen und –spots, Kinokarten, Ladenfronten und Plakaten) fungieren als offenes Archiv einer vergessenen postmigrantischen Mediengeschichte, die der Verein bis zum Lockdown auch in seinem Sinema Transtopia im Haus der Statistik mit Filmprogrammen begleitete.

Filme im Reisekoffer aus Istanbul

1961 schlossen die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit der türkischen Regierung, in den Folgejahren wurden die Einwander*innen gesellschaftlich sichtbarer. Vereinzelte Radiosendungen für die Communities entstanden bereits 1961, in den meisten ging es um praktische Lebenshilfen oder soziale Themen.

Interkulturelle politische Fernsehjournalist*innen wie Navina Sundaram waren da noch die Ausnahme. Das deutsche Fernsehen mit seinen raren „Gastarbeiter“-Sendungen in den dritten Programmen beschränkte sich oft auf „Problem“-Narrative.

Den Anfang eines selbstorganisierten Kulturangebots auf Augenhöhe machten in den 1960er Jahren lokale Filmclubs, die sich – meist am Wochenende – in Bahnhofskinos einmieteten; die Filme wurden direkt aus Istanbul mitgebracht. Das Angebot entwickelte sich schnell zum blühenden Geschäft und wirkte auch auf die Filmindustrie in der Türkei zurück. Bald galten die Bundesrepublik und West-Berlin als wichtiger Markt für türkische Filme, der größte Verleih Kalkavan saß in Neuss bei Düsseldorf.

Kopierkultur im türkischen Pop-Kino

Gewalt, Emotionen, Pathos, Politik: In den Kinos liefen vor allem die populären Yeşilçam-Filme, billig produziertes Action- und Trivialkino, benannt nach der Straße in Istanbul, in der die boomende Filmindustrie bis in die 1990er Jahre angesiedelt war. Da in der Türkei das Fernsehen erst Mitte der siebziger Jahre Einzug hielt, waren Radio und Kino das günstigste Massenmedium.

Der Filmemacher Cem Kaya hat mit seinem Dokumentarfilm „Remake, Remix, Rip-Off: Kopierkultur und das türkische Pop-Kino“ von 2014 ein unterhaltsames Porträt über die abenteuerliche Improvisationskraft dieser Industrie vorgelegt. Selbst ein Autorenfilmer wie Yılmaz Güney drehte und spielte gelegentlich im Yeşilçam-Kino. Es spiegelte die politischen Strömungen der Türkei jener Zeit wider: pro-national, pro-islamisch, links-revolutionär.

1977 kam Video auf den Markt, anfangs noch in den verschiedenen Systemen: VHS, Betamax und Video2000. Sie wurden das bevorzugte Medium der türkischen Familien, um mit der Unterhaltungskultur ihres Herkunftslandes in Verbindung zu bleiben. Die neuen Videogeräte fanden früh in die Wohnzimmer Eingang, Kassetten erschienen mit Extra-Begrüßung für die „lieben Zuschauer und lieben Landsleute in der Emigration“.

Der Türkische Basar war Treffpunkt der Sammler

Über 300 000 Videokassetten waren damals in der Bundesrepublik im Umlauf, trotz Raubkopien lohnte sich das Geschäft. 35 Prozent aller türkischen Haushalte hatten ein Videogerät, dreimal mehr als die deutschen; ein Haushalt lieh sich bis zu zehn Kassetten am Wochenende aus, berichtete 1986 das Fernsehmagazin “Aspekte”.

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Anfangs wurden die Filme in Lebensmittelläden und Import-Exportläden vertrieben, doch bald gab es allein in Berlin fast 100 Läden und Videotheken. Im damals stillgelegten U-Bahnhof Bülowstrasse existierte von 1980 bis 1993 der „Türkische Basar“, dort waren alle Händler versammelt: „Auf den Basar gehen, das war auch so wie Filme gucken. Wie ein Heimatgeschenk. ... Es gab ganz viele Buden nebeneinander, die Video- und Audiokassetten verkauft haben,“ erinnert sich Özlem Ayaydınlı in “Bitte zurückspulen”.

Filme über die Erfahrung "in der Fremde"

Cem Kaya, der durch das Yeşilçam-Kino sozialisiert wurde, hat an die 1000 VHS-Kassetten gesammelt. Ein Schatz, für den es in den hiesigen national und eben nicht transkulturell ausgerichteten Medienarchiven noch keinen Platz zu geben scheint. Im Gespräch mit Can Sungu beschreibt er die Faszination dieser Ära: „Was ich bei diesen Videokassetten so besonders fand und was mich damals auch geprägt hat, ist, dass die türkischen Filme viel exzessiver waren als das deutsche Fernsehen. (...)

Diese Filme haben uns sehr geholfen, in der türkischen Sprache drin zu bleiben.“ Ab den 1980er Jahren wurden auch in Deutschland billig produzierte Videofilme gedreht, die das konfliktreiche Leben im ‚gurbet’ (in der Fremde) erzählten.

Doch nach und nach begannen die Videotheken zu verschwinden, mit dem Einzug des Satellitenfernsehens wurden sie obsolet. Heute existiert nur noch ein einziger türkischer Verleih in Berlin: der Video- und Musikladen Ergin Kasetçilik im Wedding, den Yüksel Ergin und ihr Mann betreiben. Die Nachfrage hat nachgelassen, die VHS-Kasssetten in dem kleinen Geschäft besitzen fast einen historischen Wert. “Man muss schätzen, was man in der Hand hat”, erzählt Yüksel Ergin im Interview mit Sungu. Eine ganze Wagenladung türkisch synchronisierter Bollywoodfilme habe sie kürzlich nach Bulgarien verkauft, manchmal gucken Passanten aus Neugier vorbei. Yüksel Ergin nimmt es gelassen. Ihre Videothek bleibt in der Nachbarschaft ein wichtiger sozialer Treffpunkt.

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