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Deutschsprachige Literatur: Mit der Zunge donnern

Wie der Westerwald zur ganzen Welt wird: Annegret Helds fulminanter Roman „Apollonia“.

Die kleine Marie kann es einfach nicht fassen. Es muss doch auch schöne Momente in diesem Leben gegeben haben, denkt sie. Doch die Oma behauptet immer wieder, „dass ihr ganzes Leben ein einziger Scheißdreck gewesen sei“. Und immer wiederholt sie es und fügt oft noch hinzu: „Es wäre gut, man läge schon auf dem Kirchhof. – Aber Oma!, habe ich gerufen. – Ein Scheißdreck. – Aber Oma!“

Es ist die Lebensgeschichte ihrer Großmutter Apollonia, die uns in Annegret Helds gleichnamigen Roman von ihrer Enkelin Marie erzählt wird. Sie deckt fast das ganze vergangene Jahrhundert ab. Ein Leben auf dem Land, mitten im tiefsten Westerwald, der hier freilich, in diesem Buch, zur Welt wird. Eng und weit zugleich. Es kommt, so hat man den Eindruck, keiner heraus aus dieser Welt, auch wenn die jungen Männer in den Ersten Weltkrieg ziehen und nicht wenige den „Heldentod“ sterben. Im Zweiten Weltkrieg hat jede Familie ihre Opfer zu beklagen, und die Mütter schreien, wenn sie die Nachricht erhalten, ihren Schmerz laut durch das Dorf.

Das Dorf – das ist die Welt der Menschen, Arbeit, Liebe, ein Mikrokosmos also, in dem sich nicht das Ganze spiegelt, sondern der das Ganze ‚ist‘. Man spürt die Wirtschaftskrise in der Zeit der Weimarer Republik. Man sieht die Nazis aufkommen, auch Leute aus dem Ort und seiner Umgebung. Man erlebt auftrumpfende Parteigenossen, Mitläufer und einige, die sich offen verweigern. Dann den Einmarsch der Amerikaner. Die Welt kommt ins Dorf. Dazu gehört die Kirmes und die Kirche, kurz gesagt: das ganze Leben. Apollonia, die Titelheldin, Maries Großmutter, hatte in den zwanziger Jahren gegen den erbitterten Widerstand ihres Vaters, des Dapprechter Gustav, ihren Klemens geheiratet, der sich als das erweist, was der Vater von vorneherein in ihm gesehen hatte: einen „Drückeberger“, „Träumer“ und „Faulenzer“. Und so einem, so der Vater, gebe er „seinen Segen – nicht“.

Scholmerbach heißt der fiktive Ort, an dem dieser Roman spielt. Die reale Entsprechung, ein Ort namens Pottum, aus dem Annegret Held stammt, wird freilich nie an die Schönheit seiner literarischen Gestalt heranreichen. Denn Held erzeugt eine eigenartige Poesie, nicht nur, wenn sie von den Sommernächten schwärmt, in denen die Liebe erwacht. In der „rabenschwarzen Allmacht“ einer „Dorfnacht“ zum Beispiel sind die Lieder von der „Sommernooscht“ und dem „Bloiteduft“ als Echo von den Hängen der umliegenden Berge zurückgeworfen worden. Es stimmt schon: „Niemand, der hochdeutsch spricht, kann mitreden. Nur wer meine Sprache spricht und mit der Zunge donnern kann, als würde ein holpriger Zug um die Kurve fahren auf einem rostigen Gleis durch Gebüsch und Gestrüpp“, der kann diese Lieder auch „richtig“ singen. Mit einer traumwandlerischen Sicherheit vermeidet Held (fast) alle Klippen, an denen eine solche Geschichte leicht zerschellen kann. Die Naivität, mit der sie erzählt, ist eben nicht gespielt, das wäre nur peinlich. Sie ist echt, aber so wie in Kleists „Marionettentheater“ durch die Reflexion hindurchgegangen. Es gibt kaum ein Klischee, das sie nicht benutzen würde, bis hin zum „frohen Mut“ der Westerwälder. Aber jedes Klischee hat seine ästhetische Berechtigung. Es hat seinen Ort und funktioniert, weil es uns die Bewusstseinsinhalte der Protagonisten vermittelt. Auch die der jungen Marie, die sich in Jim, einen US-Soldaten verliebt, der in der Nähe stationiert ist. Held beschreibt, wie dieses junge Mädchen denkt und fühlt – und, vor allem, wie sie spricht. Wenn sie vor Liebe zu platzen droht oder vor Eifersucht vergeht. Oder wenn sie aus ihrer Großmutter, die eigentlich nicht sprechen will, die scheinbar ereignislose, zugleich spektakuläre Geschichte ihres langen Lebens herauslockt.

Hier liegt die bemerkenswerte Kunstleistung dieses an sich deftigen, kräftig-saftigen Romans. Held erzählt eine Dorfgeschichte in einer dafür entwickelten, deshalb angemessenen Sprache. Sie bedient sich also keiner Kunstsprache. Diese Sprache entsteht aus einer kalkulierten Mischung von Dialekt, gesprochener Rede und bewusst eingesetzten Kunstmitteln, etwa Verstärkungen durch Wiederholung. Dabei werden, dank einer Überblendungstechnik, die Zeitgrenzen aufgehoben. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen im Bewusstsein der Icherzählerin Marie. Eben hat sie noch die Episode von den zwangsweise einquartierten Ruhrpott-Witwen erzählt, denen Klemens, aus nachvollziehbaren Gründen, eine Pfanne mit gebratenen Eiern an den Kopf geschleudert hatte. Schon steht sie wieder wartend in der Kneipe, argwöhnisch eine Freundin beobachtend, die ebenfalls hinter ihrem Freund Jim her sein könnte.

Das alles ist großartig gemacht. Annegret Held, im Westerwald geboren und dort aufgewachsen, hat nach dem Abitur eine Polizeischule besucht und einige Jahre als Streifenpolizistin Dienst geschoben. Sie war aber auch auf der anderen Seite, bei den Auseinandersetzungen um die Startbahn West am Frankfurter Flughafen. Damals fing sie an zu schreiben: über ihre Heimat, ihre Herkunft, vom Westerwald und den Menschen, die dort arbeiten und leben.

Annegret Held versteht sich dabei nicht als Chronistin ihrer Heimat. Das zeigt, am deutlichsten, „Die Baumfresserin“, ein toller Roman über die Hoffnungen, Sehnsüchte, Wünsche von einigen Frauen, die in einer Kistenfabrik arbeiten. Sie werden dabei von innen heraus beschrieben. Held will die Menschen, die sprachlos sind, zu Wort kommen lassen. „Apollonia“ ist deshalb die gelungene Fortsetzung ihres ersten Meisterstücks. Martin Walser hatte einst die Literatur als „Geschichtsschreibung des Alltags“ definiert. Seine Romane sind voller Handelsvertreter, Werber, Chauffeure und kleiner Angestellter mit ihren großen Hoffnungen. Annegret Held steigt noch eine Stufe tiefer. Sie schreibt über Bauern, Arbeiter, Säufer, Versager, Dorfgesindel – und bewegt sich fast auf gleicher Höhe. Martin Lüdke

Annegret Held: Apollonia. Roman. Eichborn im Bastei Lübbe Verlag, Köln 2012. 380 Seiten, 19,99 €

Martin Lüdke

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