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Kultur: Die Angst und das Nichts

Er wies uns den Weg in die Freiheit: zum 200. Geburtstag des großen Denkers Søren Kierkegaard.

Keiner wusste besser als Søren Kierkegaard, dass Leben ein ständiges Werden ist. Und doch hielt er in seinem Tagebuch fest, dass „jeder Mensch wesentlich das ist, wozu er als Zehnjähriger geworden ist“. Nichts, so glaubte er, grabe sich tiefer in die kindliche Seele ein als eine Erziehung „streng und ernst im Christentum“. Für ihn stand fest: „Bereits in der frühen Kindheit hatte ich mich verhoben an den Eindrücken, unter denen der schwermütige alte Mann, der sie mir auferlegt hatte, selber zusammensank.“

Der Vater, bei Kierkegaards Geburt 56 Jahre alt, vermittelte seinem Jüngsten ein Christentum im Geist des Pietismus, also der Verinnerlichung und des Sündenbewusstseins als Bedingung, um Gottes Liebe zu erfahren: „Ja, über all das, was von der Güte Gottes und Christi erzählt wird, muss das Kind sich eigentlich so seine Gedanken machen, das will sagen, es merkt, dass ein ‚aber’ dabei ist, dass es gilt, wenn man gesündigt hat.“

Nach dem Maßstab alttestamentarischer Frömmigkeit hatte der Kopenhagener Kaufmann tatsächlich zweifach gesündigt. Nach dem Tod seiner ersten, kinderlos gebliebenen Frau, heiratete er, ohne ein Trauerjahr abzuwarten, das von ihm bereits schwangere Dienstmädchen. Und als Hirtenjunge in der jütländischen Heide hatte er Gott verflucht: Der Allmächtige solle das Elend von ihm nehmen! Dass er dann in kurzer Zeit reich wurde, aber auch den Tod von fünf Kindern und den seiner Frau erleben musste, sah er als Strafe eines rächenden Gottes. Kierkegaards Befreiungsversuch, zu dem das Bild vom Kopenhagener Dandy gehört, blieb eine Episode. Er beugte sich dem Wunsch des Vaters und kehrte zu ihm zurück. Als der 82-Jährige wenig später starb, deutete er diesen Tod als „das letzte Opfer, das er seiner Liebe zu mir gebracht hat (...), damit, wenn möglich, noch etwas aus mir werden könnte“.

Auch das väterliche, „unfehlbare Deutungsgesetz“ hat er übernommen: Er war überzeugt, dass auf der Familie ein „Fluch“ lag, mit dem er ebenso leben musste wie mit seinem schwachen Körper, seinen „hervorragenden Geistesgaben“ und der Schwermut als tagtäglichem Leiden. Aber wie sollte er einer jungen Frau diese Mitgift offenbaren? Er musste sich gegen die Ehe mit Regine Olsen entscheiden – und wieder taucht der Gedanke des Opfers auf: „Derart glaubte ich mich geopfert, weil ich verstand, dass meine Leiden und Qualen erfinderisch machten, das Wahre zu erforschen, welches dann andern Menschen zugute kommen könnte.“ Immerhin hat der Vater ihm ein Vermögen hinterlassen, das ihm erlaubte, als Privatmann zu leben. Kierkegaard verstand sein Privileg als gottgewollt und durch den Auftrag gerechtfertigt, den er nun schreibend einlösen wollte: den Menschen das wahre Christentum zu vermitteln.

In schneller Folge erscheinen ab 1843 seine Bücher, alle auf eigene Kosten, ohne dass ein Verleger seinen überströmenden Schreibfluss ordnen würde. Die Unübersichtlichkeit des Ganzen kommt aber vor allem dadurch zustande, dass Kierkegaard nur die Schriften, bei denen das religiöse Anliegen offenkundig ist, unter eigenem Namen veröffentlichte. Während er in den pseudonymen Werken in Rollen schlüpft, um zum Beispiel als Familienvater, Erotiker oder Dichter zu argumentieren. Aber er hatte seine Wirkung in der Nachwelt durchaus im Blick. Und deshalb lagerte in seiner Schublade ein Text, der posthum erscheint und den „Gesichtspunkt für meine schriftstellerische Tätigkeit“ ausdrücklich klärt: Er wollte als religiöser Autor gelten.

Er gilt aber auch als Begründer der Existenzphilosophie. Heidegger und Sartre knüpfen an seine Einsichten an, und, vermittelt durch Karl Jaspers, auch die moderne Psychopathologie. Etwas von dem Wahren, das er erforscht, muss folglich für Gläubige und Nichtgläubige – und auch noch für die Menschen der Gegenwart gelten. Schon in seinem Erstlingswerk „Entweder – Oder“ öffnet Kierkegaard dem Leser die Augen für die Alternative, entweder dahinzuleben – oder sich zu entscheiden, im eigentlichen Sinn ein Mensch zu sein. Ein Selbst, das sich verwirklicht. Die abgenutzten Begriffe sind bei ihm noch sinnvoll. Kierkegaard zeigt die Gefahr, sich selbst zu verfehlen, indem man oberflächlich, unverbindlich und genussorientiert lebt: „Wer ästhetisch lebt, der erwartet alles von außen. Daher die krankhafte Angst, mit der viele Menschen von dem Schrecklichen sprechen, dass man seinen Platz in der Welt nicht erlangt habe (...), eine solche Angst deutet stets darauf hin, dass ein Mensch alles vom Platz erwartet, nichts von sich.“

Was Kierkegaard vom Menschen erwartet, ist die Abkehr vom Mainstream der „Alltagsheringe“, um den Weg in die „Innerlichkeit“ einzuschlagen, der zu Unabhängigkeit und Souveränität verhilft. Der allerdings auch den Mut verlangt, sich der Wahrheit zu stellen, die mit Selbsterkenntnis verbunden ist. Er kennt die Gründe der Abwehr: „Gleich wie der Arzt wohl sagen muss, es lebe vielleicht kein einziger Mensch, der ganz gesund sei, ebenso müsste man (...) sagen, es lebe da kein einziger Mensch, ohne dass er denn doch ein bisschen verzweifelt sei, ohne dass da doch tief im Innersten eine Unruhe wohne, ein Unfriede, eine Disharmonie, eine Angst vor einem unbekannten Etwas, eine Angst vor einer Daseinsmöglichkeit oder eine Angst vor sich selber.“

„Der Begriff Angst“ heißt die Schrift, in der er dasselbe metaphorisch umschreibt: als Blick in den Abgrund, in die schwindelnde Tiefe des Nichts. Einer Angst, die nicht nur die Angst vor der eigenen Endlichkeit ist, sondern auch vor dem Nichts der eigenen Freiheit. Die Kraft zur Angst ist die zum Selbst – das die Freiheit als Chance nutzt, um das Leben zu gestalten. Die Spur dieser Analyse ist heute in der Psychotherapie zu finden, die vom Angstpatienten verlangt, mit dem Aufzug zu fahren, obwohl allein der Gedanke daran seinen Pulsschlag erhöht.

Kierkegaard macht jedoch kein Geheimnis daraus, den Begriff Angst „psychologisch derart abzuhandeln“, dass er dabei auch „das Dogma der Erbsünde“ vor Augen hat. Die Angst vor dem Nichts ist deshalb zugleich die Angst des erwachenden Geistes, den der triebhafte Körper bedrängt. Ein Spannungsverhältnis, das er in der Schrift „Die Krankheit zum Tode“ ins Zentrum stellt. Hier geht es ihm um die Aufgabe des Selbst, die körperlich-geistigen, seelisch-leiblichen Widersprüche auszuhalten, sie zu „synthetisieren“.

Man könnte auch sagen: um eine andauernde Bewegung, zu der seine berühmte Formel gehört: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.“ Für Kierkegaard ist sie geeignet, um das gelingende Selbstsein mit dem gläubigen Christsein zu verschmelzen. Nur wenn sich das Selbst zu sich selbst – und zugleich zu Gott verhält, könne es Ruhe und Ausgeglichenheit finden. Löst er dieses Versprechen ein? Warum gibt es den „Sprung“ als zentrale Kategorie seines Denkens? Diesen Sprung in den Glauben, den er so oft fordert, dass man den Verdacht hat, damit sei der Absprung vom Zweifel an Gottes Güte gemeint.

Dieser Zweifel gehört zu Søren Kierkegaards Kindheit. Aber er lässt ihn in seinem kurzen Leben, das 1855 in einem Kopenhagener Krankenhaus endet, nicht los: „Nein, nein, nein, du bringst mich nicht dahin, etwas Anderes von dir zu glauben (...), du hältst mich nicht zum Narren, du bist unendliche Liebe!“ Was verbindet uns heute mit Kierkegaards Denken? Seine religiöse Mission? Oder seine existenzphilosophische Analyse des Daseins?

Das muss jeder Leser selbst entscheiden. Kierkegaard hat sich ausdrücklich zu Sokrates bekannt. Er bewunderte dessen Methode, seine Zuhörer durch geschicktes Argumentieren zur Einsicht zu führen. Er wollte sie auch selbst praktizieren, indem er für ein gelingendes Leben lediglich Vorschläge macht. Zu guter Letzt hat also jeder die Wahl: Er kann sich entweder für die Aufgabe des autonomen Selbstwerdens – oder für den Sprung in den Glauben entscheiden. Und ein Selbst aus Gottes Hand.

Angelika Brauer

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