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„L“ wie Lachen. Das gefällt Kindern überall auf der Welt.

© picture alliance / Mohammed Talatene/dpa

„Das Alphabet der Kindheit“: Die Buchstaben magischen Denkens

Wörter aus den Bedeutungsräumen von Kindheiten: „Das Alphabet der Kindheit“ der Erziehungswissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Helge-Ulrike Hyams.

Von Caroline Fetscher

A wie Atmen, Z wie Zaubern und alle Buchstaben dazwischen: Das verspricht das „Alphabet der Kindheit“. Und hier kann als Erstes versprochen werden, dass dieses ganze ungewöhnlich schöne Buchstaben-Buch auf jeder Seite atmet und zaubert. Assoziativ und poetisch, mit Humor und Empathie versammelt Helge-Ulrike Hyams Schlüsselworte der Kindheit und gesellt ihnen Geschichten bei, Vignetten, philosophische Fragen, Erzählfragmente, Erfahrungen (Das Alphabet der Kindheit. Berenberg Verlag, Berlin, 448 Seiten, 29 €).

Das Zauberzeug des ABC macht, dem Prinzip der Sammlung gemäß, den Anfang, so wie es den Anfang jeder Schulzeit bedeutet. Aus zwei Dutzend Buchstaben, die das Tor zur Welt öffnen, lassen sich Welten bauen, im Spiel wie im Ernst. Sie sind das erste kostbare Geschenk auf dem Bildungsweg. Hyams berichtet dazu von einer Tradition im Judentum. Die Lehrer schrieben das Alphabet mit Honig auf die Tafel, die Schüler durften ihre Finger in die Honiglettern tauchen und sinnlich herausfinden, dass Buchstaben süß schmecken. Buchstaben begegneten ihnen als etwas Verheißungsvolles und Nahrhaftes, sie gaben einen Vorgeschmack auf die Schuljahre, einen guten.

Diese Autorin nimmt das Mysterium der Buchstaben beim Wort. Über Jahre hat Hyams, bis 2005 Professorin für Erziehungswissenschaftlerin in Bremen, Wörter aus den Bedeutungsräumen von Kindheiten gesammelt, und öffnet jetzt ihr quicklebendiges Archiv. Darin gibt es „T“ wie Tanzen, Teddybär, Tiere, Tod und Träume, „M“ wie magisches Denken, Märchen und Musik, „K“ wie Karussell, Kindermord, Kleidung und Kunst, „L“ wie Lachen, Lehrer, Lügen, „E“ wie Eifersucht, Einsamkeit, Eis, Ekel, Eltern, Engel oder „S“ wie Schulschwänzen und Schokolade.

Nicht nur Psychoanalytikerin, sondern auch Sammlerin

Hinter jedem der Stichworte kommen Schichten von Geschichten zum Vorschein, über Glück und Unglück, Angst und Mut, Heimweh und Langeweile, Sexualität, Wille und Wachsen – immer wieder Wachsen, der Inhalt der Kindheit. Dazu gehört auch Lob des Lehrers in Zitaten aus dem Brief von Albert Camus an seinen Lehrer, dem er die ersten Schritte seines Weges aus der Bildungsferne zum Nobelpreis verdankte. Lehrer, erklärt Hyams, hießen auf Finnisch zu Recht „kansankynttillä“: Kerzen der Gesellschaft. Ihre Zeuginnen und Zeugen sucht die Autorin ohne Scheu, wo immer es Sinn ergibt. Sie greift zu Märchen und Mythen, Adorno und Freud, Erich Kästner und Astrid Lindgren, Ronald D. Laing und Bruno Bettelheim.

Unverkennbar ist nicht nur eine Wissenschaftlerin, Psychoanalytikerin und Mutter von vier Kindern am Werk, sondern eine professionelle Sammlerin. Mit ihrem Mann, einem britischen Anthropologen, hatte Helge-Ulrike Hyams das – leider inzwischen geschlossene – Marburger Kindheitsmuseum gegründet und eine umfangreiche Sammlung deutsch-jüdischer Kinderbücher angelegt, inzwischen als „Hyams Collection“ beherbergt von der Bibliothek des Leo Baeck College in London.

Kindheit hat immer Nachtseiten, immer Tagseiten

Auch das „Alphabet der Kindheit“ ist eine Sammlung, doch bei aller Verspieltheit und vermeintlicher Willkür beim Folgen der Buchstabenreihe, alles andere als ein leichtfertiges Sammelsurium. Vielmehr bietet Hyams eine reiche kosmopolitische Ernte aus einem Leben als Expertin für Kindheit und Pädagogik. Klug sind ihre Hinweise zum Gewährenlassen, etwa beim Kampf um Bekleidung, zum Vertrauen in Kinder, etwa wenn sie klettern oder umherstreunen wollen, zum Vermeiden jeglicher Beschämung mit Sätzen wie „Guck dich doch mal an!“.

Kindheit, oft idealisiert, manchmal dämonisiert, hat immer Nachtseiten, immer Tagseiten, sie wird der Gattung erst allmählich bekannt. „Von Kindheit haben wir keine Begriffe“, zitiert Hyams Hölderlin. Sie spricht von der Angst der Kinder vor dem Zubettgehen, vor Dunkelheit und Nacht. Und sie wundert sich über die Deutschen: „In keinem anderen Land begegnet man abends so wenig Kindern wie in Deutschland“, nicht in Restaurants, in Parks, auf den Straßen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

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