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Kultur: Die Fackel

Zum Tod des großen Kritikers Uwe Nettelbeck

Plötzlich kehren sie wieder, die Geister, Geistesköpfe und Gespenster der 60er Jahre. Vier Dekaden nach dem Attentat der Streit um eine Rudi-Dutschke- Straße; vielerlei RAF-Theater und die Erinnerung an die letzten, vielleicht zu begnadigenden Gefangenen. Oder jetzt die Nachricht, dass letzte Woche, öffentlich zunächst unbemerkt, Uwe Nettelbeck mit 67 gestorben ist. Nettelbeck?, fragen die Jüngeren. Der Publizist Uwe Nettelbeck war einmal ein Idol. Gut fünf Jahre, bis Ende 1968, schrieb er Film- und Literaturkritiken für die „Zeit“, dazu Gerichtsreportagen. Was er vom Prozess gegen den Kindesmörder Jürgen Bartsch berichtete, druckte die „Zeit“ als Fortsetzungsgeschichte: Kapitel einer schrecklichen Karriere, mit solch’ psychologischer Beobachtungskraft geschrieben wie der Roman eines mörderisch selbstmörderischen Lebens. Das war damals ohne Beispiel.

Und Nettelbeck war ein beispiellos guter Filmkritiker. Noch heute, aus dem vorelektronischen Archiv gegraben, sind sie von einzigartiger Frische, Wahrnehmungsschärfe, Urteilssicherheit: Texte, in denen er meist auf ganzen „Zeit“-Seiten die Filme von Jean-Luc Godard, Truffaut, Bergman oder Stanley Kubrick leuchten und durch die Kritik zum Leser „sprechen“ ließ. Dieser abgebrochene Literaturstudent war gerade Mitte Zwanzig. Und konnte wie keiner, auch keiner danach, Szenen anschaulich beschreiben, um sie wie ein nachgeborener Walter Benjamin zugleich analytisch zu erhellen. Kreation und Reflexion haben sich bei ihm so elegant wie emphatisch miteinander verbunden. Ohne dass Kunst, Politik und Zeitgeist in einen Eintopf gerieten. Aber ihr Wechselspiel war immer gegenwärtig. Das gehörte um ’68 dazu – Nettelbecks kritische Essays (auch in der Zeitschrift „Filmkritik“) haben das trotzdem nicht ideologisch bedient. Dafür hatte Nettelbeck viel zu viel Kunstverstand.

Ein an sich unideologischer, doch am Ende provokanter Bericht über den Frankfurter Kaufhausbrandprozess und der verspätete Rat an Baader und Ensslin, sich intelligentere Rechtsbrüche einfallen zu lassen, kostete den jungen „Zeit“-Geist seinen Job. Er wurde in Hamburg kurzfristig Chefredakteur von „Konkret“, zerstritt sich mit dem ominösen Polit-Sex-Verleger und Meinhof-Gatten Röhl und emigrierte aus dem journalistischen Alltag. Nettelbeck ließ sich den Bart wachsen und zog sich mit seiner querschnittslähmten Frau Petra (Krause), die er als schönste Fernsehansagerin Deutschlands bei den Oberhausener Filmtagen kennengelernt und bald geheiratet hatte, in die Lüneburger Heide und später auch nach Frankreich aufs Dorf zurück. Aber die beiden machten Bücher und die Halbjahreszeitschrift „Die Republik“: Nettelbeck ein deutscher Karl Kraus, eine geistige Fackel der Bundesrepublik, auch ein Pop-Produzent. Doch viel besser als jeder spätere Popautor. Halb vergessen, aber unsterblich sollte er nun mit einer Auswahl seiner Kritiken wiederauferstehen. Zu unser aller Gewinn.

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