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In "Der Tag des Spatzen" blickt Philip Scheffner aus der Vogelperspektive auf den Bundeswehreinsatz in Afghanistan.

© Pong Film

Die Filme von Philip Scheffner: Die zwei Seiten der Medienwirklichkeit

Der Berliner Filmemacher Philip Scheffner hinterfragt die Autorität der Bilder. Im Januar präsentiert das Arsenal Kino sein Gesamtwerk online.

Ein vollbesetztes Schlauchboot treibt auf dem Meer, leicht ruckelnd verändert das Bild immer wieder seine Position, als würde jemand versuchen, den Bildausschnitt zu justieren. Irgendwann kommt ein Schwenk, der den Blick freigibt auf den Horizont. Strahlend blauer Himmel, darunter das Meer und darin jetzt nur noch als dunkler Punkt das Schlauchboot. An dieser Stelle des Bildes bleibt das Auge hängen, weil es das Gesehene nicht verstehen, nicht enträtseln kann.

Philip Scheffners Film „Havarie“ (2016) besteht aus dieser einzigen Einstellung, einem auf Youtube gefundenen Video, das er auf neunzig Minuten gestreckt hat. Frame für Frame entfaltet er, was eigentlich in dreieinhalb Minuten vorbei wäre und dehnt auf diese Weise die Wirklichkeit, bis sich das Rätsel vom auf dem Meer treibenden Boot in seiner ganzen Deutlichkeit zu erkennen gibt: es ist ein Boot mit Geflüchteten, die auf dem Mittelmeer havariert sind.

Dazu hat Scheffner aus dem Off eine Stimmen-Collage montiert: ein Kapitän gibt Funksprüche und die Lagekoordinaten durch, Anrufe einer Frau sind zu hören, die von einer bevorstehenden Abreise erzählt, außerdem Fragmente einer Liebesgeschichte. Momente, die die Havarie des Bootes begleitet haben könnten.

Die hörspielartige Tonspur hat Scheffner um Gespräche ergänzt, die er mit Geflüchteten im spanischen Cartagena und algerischen Oran geführt hat. In der Mitte, zwischen beiden Hafenstädten, auf offener See: das treibende Boot.

Wahrheitssuche und Wirklichkeitszuspitzung

Die Mischung aus dokumentarischer Wahrheitssuche und fiktionalisierender Wirklichkeitszuspitzung ist charakteristisch für die Filme von Scheffner, die aktuell in einer Werkschau im Streamingraum das Arsenal Kinos zu sehen sind. Seit 2007 hat er insgesamt fünf lange Filme zusammen mit Co-Autorin Merle Kröger realisiert, in „And-Ek Ghes“, ebenfalls von 2016, überlassen sie den Protagonisten die Co-Regie. Die Roma-Familie Velcu filmt ihr eigenes Leben in Berlin.

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Da sitzt der Vater am Küchentisch und schreibt die Szenen, die von der Familie umgesetzt werden, oft in mehreren Takes, wie in einem Spielfilm. Sie werden auf diese Weise zu selbstbestimmten Subjekten, gleichzeitig räumt Scheffner mit der allwissenden Autorität des Dokumentarfilmers auf. Gerade in Zeiten, wo die Nachrichtenbilder wieder humanitäre Flüchtlingskatastrophen zeigen, wird die brisante Relevanz deutlich, den gefilmten Geflüchteten eine eigene Stimme zu geben und sie aus der subalternen Objekthaftigkeit zu befreien.

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Scheffner ist ein politisch kluger und engagierter Filmessayist, der nie aufhört, Fragen zu stellen und die Wahrheitssuche zum Gegenstand zu machen. Seine Filme sind immer auch Making-ofs, die die Recherche miterzählen. Scheffner tritt meist persönlich auf, befragt die Interviewpartner, berichtet von seinen Nachforschungen, auch wenn sie in Sackgassen führen. Das Scheitern ist bei ihm Teil der Prozesses.

Dokumentarischen Kapriolen, irritierte Bundeswehr

Die Widerständigkeit und Kontingenz der Welt sind philosophische Themen, die Scheffner beiläufig aufwirft. „Der Tag des Spatzen“ (2010) verbindet Ornithologie mit investigativer Recherche und versucht, mittels des Vogelbestands auf militärischen Übungsplätzen Auskunft über den deutschen state of war während des Afghanistaneinsatzes zu bekommen. Diese dokumentarischen Kapriolen, die auf einen konsterniert-irritierten Bundeswehrmitarbeiter treffen, sind absurd und höchst vergnüglich.

(Die Werkschau ist bis zum 31. Januar über www.arsenal-berlin.de zu sehen)

Prinzipiell, so Scheffner, kann die Wirklichkeit aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden, gegebenenfalls eben auch aus ornithologischer Sicht. Auf die Spitze treibt er seine Methode in „Revision“ (2012). In ihm rekonstruiert er einen Mordfall, der sich vor zwanzig Jahren an der deutsch-polnischen Grenze zugetragen hat. Zwei Roma, die mit einem Flüchtlingstross aus Rumänien über die grüne Grenze kamen, wurden im Morgengrauen von Jägern erschossen. Ein Jagdunfall? Oder ein Anschlag gegen die Migranten?

Auch wenn Scheffner die Hinterbliebenen der Opfer und den Anwalt der Angeklagten trifft und kriminologische Fragen stellt, geht es ihm weniger darum, den Fall aufzuklären, als hinter die Tatsachen zu blicken. Konsequenterweise wird er die Familie Velcu vier Jahre später in „And-Ek Ghes“ wieder vor die Kamera holen, damit sie ihre Migrationsgeschichte erzählen.

Philip Scheffner schickt die Wirklichkeit in Revision, um Vielschichtigkeit aufzudecken. Die Wahrheit ist Ansichtssache, eine Frage des point of view. Diese Haltung ist nicht relativistisch zu verstehen, sondern gibt Ausdruck einer prinzipiellen Skepsis. Die epistemologische Verunsicherung zu erkennen, ist der große Scheffner-Moment.

Dunja Bialas

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