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DIE GESCHICHTE: Jagd auf Kaltenbrunner

8. Mai 1945: Kriegsende in Europa. Ernst Kaltenbrunner, Nummer zwei hinter SS-Chef Himmler, flieht in die Berge. Eine Spezialtruppe der Amerikaner folgt ihm. Hier ist ihr Bericht

Sein Aufstieg hatte sich in der österreichischen SS vollzogen. Ernst Kaltenbrunner war nach dem „Anschluss“ von Himmler zum Höheren SS- und Polizeiführer für den Wien, Ober- und Niederösterreich umfassenden Wehrkreis ernannt worden. Im Januar 1943 gelangte er als Nachfolger Reinhard Heydrichs an die Spitze des Reichssicherheitshauptamts. Jetzt war er der „kleine Himmler“, wie Kaltenbrunner in seiner oberösterreichischen Heimat genannt wurde. Gnadenlos, brutal, menschenverachtend, ein Holzfällertyp mit Stiernacken, so schilderten ihn Zeitgenossen. Dabei kam der studierte Jurist Kaltenbrunner aus gutbürgerlichem Hause.

Als die letzten Tage des „Dritten Reiches“ gezählt waren, im April 1945, verlagerte er zunächst sein Hauptquartier nach Salzburg und begab sich sodann zu seiner Familie nach Strobl am Wolfgangsee. Von dort setzte er sich Anfang Mai 1945 zu seiner damaligen Geliebten, Gisela Gräfin Westarp, die ihm im März 1945 Zwillinge geboren hatte, nach Altaussee ab. Hier, im Ausseerland, konnte er sich auf einen Kreis von Getreuen und Mitarbeitern aus dem SS-Sicherheitsdienst stützen, die von der Fortsetzung des Kampfes aus der Alpenfestung heraus und von Friedensverhandlungen mit den Westmächten unter dem Codenamen „Projekt Herzog“ träumten.

Am 9. Mai 1945 um vier Uhr morgens, nur Stunden nach dem offiziellen Kriegsende in Europa, wurde ein Infanterie-Sonderkommando unter Major Ralph Pearson nach Altaussee verlegt. Oberst Robert E. Matteson vom amerikanischen Militärgeheimdienst Counter Intelligence Corps (CIC) erhielt den Befehl, sich mit einer kleinen Abordnung anzuschließen.

Himmlers ranghöchster Vasall hatte sich derweil, schwer bepackt mit Proviant, Maschinenpistolen, Handgranaten und Munition, begleitet von seinem Adjutanten Scheidler und zwei Gestapomännern sowie zwei einheimischen Jägern, auf die Wildenseehütte bringen lassen.

Der folgende, gekürzte Bericht des Geheimdienstoffiziers Robert Matteson, datiert auf den 25. Mai 1945, wird hier zum ersten Mal abgedruckt. Er stammt aus den Akten des Historical Review Program der CIA in Washington. Ulrich Schlie

„Als die Siegfried-Linie durchbrochen war und Nazi-Deutschland auseinanderzufallen begann, verbreitete sich das Gerücht, dass sich ein harter Kern von Parteigrößen und der Waffen-SS in einem Reduit in den österreichischen Alpen verschanzen würde, um von dort wie Werwölfe über die alliierten Truppen herzufallen. Später wurde über den ,Mythos’ viel gespottet. Aber Anfang Mai 1945 hatten weder die Werwölfe noch das Alpenreduit etwas Mythisches an sich. General Walter Bedell Smith brachte die Dinge auf den Punkt, als er sagte: ,Wir hatten jeden Grund zur Annahme, dass die Nazis ihre allerletzte Schlacht in den Bergen schlagen wollten.’ Alle Informationen deuteten auf die Alpenregion südlich und östlich von Salzburg hin.

Am Morgen des 11. Mai erhielten wir schließlich unsere erste brauchbare Information über Kaltenbrunners Versteck. (Bürgermeister) Johannes Brandauer berichtete, dass der Förster von Altaussee – ein Mitglied der Freiheitsbewegung – General Kaltenbrunner, Scheidler und zwei SS-Offiziere auf der Wildenseehütte oben im Toten Gebirge gesehen habe. Obwohl dieser Hinweis fünf Tage alt war, hatte er den Vorzug, von einer zuverlässigen Quelle zu stammen: Brandauer war einer unseren engsten und vertrauenswürdigsten Zuträger. Ich bat ihn daher, mir sofort zwei zuverlässige Österreicher zu bringen, die die Bergpfade kannten und als Bergführer dienen sollten.

Brandauer brachte nicht nur zwei, sondern vier Österreicher, alles frühere Wehrmachtssoldaten. Sie sagten, wir würden fünf Stunden bis zur Hütte brauchen. Es läge immer noch sechs bis neun Meter hoch Schnee in den Bergen, und auf den letzten vier Kilometern hätten wir keine Möglichkeit der Deckung. Wir müssten deshalb noch vor Mitternacht aufbrechen, um im Schutz der Dunkelheit oben anzukommen und solange die Schneedecke noch hart wäre.

Ich sollte mich nach österreichischer Landestracht kleiden – Lederhosen, Janker und Hut, mit Nägeln und Eisenspitzen versehene Schuhe. Ich sollte mich allein der Hütte nähern, die Österreicher wollten nicht näher als 500 Meter herankommen. Ich sollte unbewaffnet sein, um nicht das Feuer auf mich zu lenken oder irgendwie Verdacht zu erregen. Ich würde mich als Wanderer ausgeben, der die Berge auf dem Weg nach Steyrling überqueren müsse. Es gab viele Wehrmacht-Deserteure und Nazis auf der Flucht, deren sicherster und sinnvollster Weg sie zu Fuß über die Berge führte. Wenn Kaltenbrunner nicht da wäre, würde ich sofort wieder herauskommen.

Dies war ein heikler Plan. Dass er nur stolpernd ausgeführt wurde, lag daran, dass Major Pearson, der Kommandant des Sonderkommandos, darauf bestand, uns eine Schwadron seiner Jungs mitzuschicken. Ich fürchtete, ihre Anwesenheit würde zu einem Nahkampf führen, bei dem es entweder Tote geben oder Kaltenbrunner uns entkommen würde. Meine Argumente führten schließlich zu dem Kompromiss, dass ich die Truppe entsprechend meinen Bedürfnissen einsetzen durfte. Ich befahl zunächst, dass sie sich im Hintergrund halten sollten und auf den letzten Metern zur Hütte in Deckung gehen sollten.

Nachdem alles vorbereitet war, bestellte ich am Nachmittag Gisela (Kaltenbrunners Geliebte) ein. Sie war extrem begierig zu erfahren, welche Nachricht über Kaltenbrunners Verbleib wir hätten. Ich sagte ihr, wir hätten einige Anhaltspunkte, und bat sie, ihm ein paar Zeilen zu schreiben und ihn deutlich zu bitten, sich doch lieber mit dem Überbringer der Botschaft in sicheren amerikanischen Gewahrsam zu begeben als den Russen in die Hände zu fallen und dort mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Tode zu kommen. Nach einem Moment des Nachdenkens kam sie der Bitte nach.

In dieser Nacht traf sich die Patrouille um 23.30 Uhr im CIC-Büro für eine letzte Besprechung. Die Infanterie-Jungs hatten, obwohl sie sich freiwillig gemeldet hatten, doch ihre Zweifel an dem Plan und vor allem daran, dass sie sich von früheren deutschen Soldaten führen lassen sollten. Sie wollten unmissverständlich klarstellen, dass die Bergführer, wenn sie nur einen falschen Schritt täten, tote Enten seien – nachdem sie heil durch den Krieg gekommen waren, wollten sie nicht jetzt noch, den Frieden und die Heimat in greifbarer Nähe, ihr Leben verlieren.

Als wir um Mitternacht aufbrachen, schien es uns, als ob unsere Soldaten, beladen mit Waffen, Handgranaten und Munition, genauso viel Lärm machten wie eine Panzerkompanie, die durch die Straßen rollt; es würde den Dorfbewohnern also klar sein, dass eine Patrouille aufgebrochen war. Wir liefen am Seehotel entlang, wo ein SS-Lazarett einquartiert war, durch Fischerndorf, am Ufer des Altausseer Sees entlang und begannen den Anstieg. Es gab unerwartete Hindernisse: Entwurzelte, von Lawinen mitgerissene Bäume versperrten den Weg, und die Fußgängerbrücke über den Stammern war von den Fluten der Schneeschmelze mitgerissen worden. Durch den Wald, bald oberhalb der Baumgrenze, wand sich unser Weg entlang, wie Schnecken über den sehr schmalen Bergpfad. Die Infanterie, waffenschleppend und ohne gespikte Schuhe, ließ uns nur langsam vorankommen, und schon bald war klar, dass wir unseren Zeitplan nicht würden einhalten können. Drei Soldaten, die durch Steinschläge verletzt wurden, ließen wir auf dem Weg zurück.

Um fünf Uhr, beim Morgengrauen, erreichten wir schließlich einen schneebedeckten Pass, von dem aus wir durch Ferngläser die Wildenseehütte sehen konnten. Sie lag auf der anderen Seite einer großen, abfallenden Almwiese, hinter der man einen lang gestreckten Bergrücken ersteigen musste, kurz unterhalb des Gipfels. Wir beschlossen dennoch, den geraden Weg in voller Sicht zu gehen, anstatt einen Umweg zu nehmen, der uns Schutz durch überhängende Felsen geboten hätte. Es wurde schon spät, alle waren erschöpft, weil wir bei jedem Schritt durch die Schneedecke brachen, und zudem wirkte die Hütte völlig verlassen.

Hinter einer Schneewehe, etwa 300 Meter vor der Hütte, trennte ich mich von den vier österreichischen Führern und dem Rest der Infanteristen und arbeitete mich zu der blinden Seite der Hütte vor; dabei nutzte ich jede Deckungsmöglichkeit, die sich mir bot. Während ich mich noch über mich selbst amüsierte, dass ich mich einer offensichtlich verlassenen Hütte so vorsichtig näherte, hörte ich rechts ein Vogelsignal. Nein, es war ein Vogel, der augenscheinlich genauso einsam war wie ich. Wie ich sehen konnte, handelte es sich um eine typische Berghütte, zwei Zimmer, ein Holzschuppen, eine Veranda in Richtung des Abhangs, von wo wir gekommen waren. Die Blendläden waren geschlossen, kein Rauch kam aus dem Schornstein, keine Fußspuren waren im Schnee sichtbar.

Ich trat auf die Veranda und klopfte an die Tür. Keine Antwort. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, und fand sie verschlossen. Dann hörte ich ein verschlafenes Grunzen aus dem linken Raum. Ich klopfte nochmals laut an den Fensterladen. Jemand stand auf und lief durchs Zimmer. Der Blendladen wurde geöffnet, ein grobschlächtiger Mann von etwa 35 Jahren schaute heraus, es war nicht Kaltenbrunner. ,Was suchen Sie?’, fragte er. Ich sagte in sehr amerikanisch klingendem Deutsch, dass mir kalt sei und ich hereinkommen wolle. Aber er machte keinerlei Anstalten, mich hereinzulassen, daher kam ich gleich zur Sache und übergab ihm Giselas Briefchen an Kaltenbrunner.

Er las es sorgfältig und sagte dann, er kenne diese Leute nicht, er sei nur ein Wanderer auf dem Weg nach Bad Ischl. In diesem Augenblick schweifte sein Blick über meine Schulter und sah die vier Bergführer mit umgehängten Gewehren heraufkommen; als diese beobachtet hatten, dass mir nichts passiert war, hatten sie entschieden, dass keine Gefahr drohe. Der Mann drehte sich schnell um und nahm einen Revolver aus seiner Hose, die neben seinem Bett hing. Ich ging an der Westseite der Hütte in Deckung, und er schmetterte den Fensterladen zu. Die Bergführer, nun alarmiert, brachten die acht Infanteristen in einem Halbkreis um die Hütte in Stellung. Während dieses Manöver stattfand, öffnete der Mann aus der Hütte die Tür und trat auf die Veranda, vielleicht um zu verhandeln, doch als er die Verstärkung sah, zog er sich schnell in die Hütte zurück, schlug die Tür zu und verriegelte sie.

Mit unseren Leuten in Position forderten wir die Männer in der Hütte auf, sich zu ergeben und mit erhobenen Händen herauszukommen. Zehn Minuten lang wiederholten wir diesen Aufruf, ohne Ergebnis. Wir wollten noch nicht anfangen zu schießen, traten auf die Veranda und begannen, die Tür einzuschlagen. Doch sie wurde sofort geöffnet, und heraus kamen vier Männer mit den Händen über dem Kopf. Sie hatten doch beschlossen, sich friedlich zu ergeben.

Im Inneren der Hütte fanden wir vier Wehrmachtsgewehre, vier Revolver, eine große Menge Munition, zwei Maschinenpistolen und ein Maschinengewehr, Letzteres im Kamin versteckt. Ebenfalls eine Kiste leerer Champagnerflaschen, französische Bonbons, amerikanische zollfreie Zigaretten und große Mengen englischen und amerikanischen Falschgelds. In der Aschentonne des Kamins fanden wir ein Bild von Kaltenbrunner mit Frau und Kindern, eine Kopie seiner letzten Radiobotschaft an Fegelein für Himmler und Hitler, seinen Ausweis als Chef der SIPO (Sicherheitspolizei) und des SD (Sicherheitsdienst) und seine metallene Erkennungsmarke, die ihn als Nr. 2 der Gestapo und der Kriminalpolizei auswies (Nr. 1 war Himmler).

Ich verhörte alle vier Männer. Zwei von ihnen gaben sofort zu, SS-Wachen zu sein, aber behaupteten, keine Verbindung mit Kaltenbrunner zu haben. Und Kaltenbrunner und Scheidler weigerten sich, ihre Identität preiszugeben, obwohl an der des Erstgenannten kein Zweifel bestand. Sie hatten falsche Papiere, Kaltenbrunner die eines Arztes, der aus der Wehrmacht entlassen war, und er trug auch einen Arztkoffer mit der entsprechenden Ausstattung bei sich. (Später gab er sich große Mühe, uns zu erklären, dass diese Papiere nicht gefälscht, sondern echte Papiere Verstorbener seien. Diese feine Unterscheidung war typisch für seine Bemühungen, als österreichischer Gentleman und guter Katholik dazustehen.) Während des Verhörs stand er die ganze Zeit stramm, sehr bemüht, durch Ernsthaftigkeit und Kooperation einen guten ersten Eindruck zu vermitteln. Scheidler war genau das Gegenteil. Er gab sich keine Mühe, seinen Zorn zu verbergen. Seine Augen funkelten mich wütend an, als wir den vier Männern schwere Lasten auf dem Weg zurück ins Dorf zu tragen gaben.

Um halb zwölf mittags waren wir wieder zurück in Altaussee. Dort hatte es sich bereits herumgesprochen, dass eine Bergpatrouille zurückkäme: Eine Menschenmenge hatte sich auf der Dorfstraße versammelt. Als wir am Prinzen Hohenlohe vorbeiliefen, bemerkte dieser: ,Ich sehe, Sie haben Kaltenbrunner also gefunden’, und gleichzeitig brachen Gisela und Iris (Scheidlers Frau) aus der Menschenmenge aus, liefen auf uns zu und fielen ihren Männern um den Hals. Kaltenbrunner und Scheidler mussten nun ihre Masken fallen lassen.“

Mattesons Bericht aus dem Amerikanischen übersetzt von Stephanie Salzmann

Ulrich Schlie

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