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Kultur: Die globalisierte Erinnerung

Heute gedenkt die Bundesrepublik der Opfer des Holocaust. In diesem Jahr fällt das rituelle Datum mit einem aktuellen Ereignis zusammen, das über Krieg oder Frieden entscheiden könnte: mit dem Blix-Bericht

Das zerfetzte Schlachtross und seine amputierte Kavalleristin stürmen aus den Alpträumen des alten Europa durch den Wintergarten in den Vortragssaal der Saarländischen Landesvertretung. Von Penthesilea, der Amazonenkönigin, die zur Sühne eigener Blutschuld einst das belagerte Troja retten wollte und dann im Killerduell mit der griechischen Kampfmaschine Achill den Tod fand, hat der Bildhauer Claude Goutin nur den verstümmelten Rumpf übriggelassen. Und ein Haupt unterm Helmvisier, ohne Sehschlitz. Als Torso aus geflickten Tonscherben zieht die mythologische Kriegsbraut ein in die Berliner Botschaft des kleinen Bundeslandes, wo auch der Verband der Kriegsopfer mit seinem Pressebüro residiert. Penthesilea ist blind, hinter ihr liegen die Kulissen der Geschichte: verbrannte Erde des Abendlands, Reichstag, Brandenburger Tor und eine umzäunte Brache, der Acker des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“.

In diesem Frühjahr soll die Bauarbeit an dem nationalen Monument des deutschen Menschheitsverbrechens definitiv beginnen: Zur Sicherung guter Kamera-Positionen geben sich Hauptstadt-Fotografen in der optimal gelegenen Saarland-Vertetung bereits die Klinke in die Hand. Die allmähliche Manifestation des versteinerten Gedenkens im Herzen der Kapitale wird die Gemüter bewegen; sie war bereits Thema des „Mahnmal-Streits“; sie wird auch am 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus problematisiert. Denn dieser Termin der offiziellen Retrospektiven gilt ja nicht nur als das lebendige Pendant zur Erledigung der Erinnerung unter Beton.

Kritiker unterstellen den Gedenktagsroutiniers, wie dem Denkmal, die Beförderung unseres historischen Vergessens. Dabei ist der 27. Januar ein vielschichtiger Erinnerungsfixpunkt. Kaisers Geburtstag und Mozarts Wiegenfest fallen auf diesen Tag; den Komponisten wird man wohl noch würdigen, wenn eines Tages vom Holocaust – kann das, darf das je geschehen? – keiner mehr spricht. Außerdem korrespondiert anno 2003 das Datum, an dem Auschwitz befreit wurde, nicht nur mit dem 70. Jahrestag der Wahl Hitlers zum Kanzler (30.Januar), sondern auch mit dem aktuell erwarteten (weltkriegsentscheidenden?) Bericht des Irak-Inspektors Blix.

„Wir müssen immer wieder neu buchstabieren, welche Art von Verantwortung aus der spezifischen geschichtlichen Erfahrung zu ziehen ist,“ schreibt Wolfgang Thierse in einer Dokumentation zur Konzipierung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas (Sibylle Quack, Hg.: „Auf dem Weg zur Realisierung“, DVA). Das Konzert der in diesem Band versammelten Meinungen artikuliert divergierende Erwartungen: Die (von der Öffentlichkeit ignorierte) Mahnmalexpertendebatte kreist um Wege und Abwege deutscher Gedenkpolitik. Dient die Beschwörung des Holocaust der Staatsräson? Während der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz ein „lebendiges Denkmal in der Mitte der Gesellschaft“ erstrebt, möchte der Architekt Peter Eisenman „eine Erfahrung von Raum und Zeit aus erster Hand“ vermitteln, „die dem Gefühl entsprechen könnte, allein in einem Lager zu stehen“. Die Kunstwissenschaftlerin Silke Wenk wiederum warnt davor, für Empathie zu halten, was eher Identifikation mit den Opfern sei, und „die Toten“ für die eigene Zukunft zu instrumentalisieren.

Das Thema Vereinnahmung hat auch der Historiker Jan-Holger Kirsch in seiner Untersuchtung über den Mahnmal-Streit aufgespießt. In „Nationaler Mythos oder historische Trauer?“ (Böhlau-Verlag) konstatiert Kirsch, dass der Trend zur historisch entkernten Holocaust-Mythologisierung kein deutsches, sondern ein internationales Phänomen sei. Er beschreibt eine gegenläufige Entwicklung: Einerseits schreite die Globalisierung der Erinnerungskultur voran, andererseits finde die „individuelle und soziale Aneignung von Vergangenheit vor allem im Nahbereich des Zusammenlebens statt“.

Einige Berliner Veranstaltungen zum 27. Januar 2003 instrumentalisieren das Erinnerungsthema als moralische Lektion. „Erinnern für Gegenwart und Zukunft – Toleranz gewinnt“ hieß es zur Eröffnung eines Schülerwettbewerbs der Shoah-Foundation im Axel Springer Verlag. Im „Haus für Demokratie und Menschenrechte“ diskutierte man drei Tage vor dem 27. Januar die „Gedenkroutine“. An der Saalwand sind Texte des Journalisten Mumia Abu-Jamal ausgehängt. „Während diese Kolumne geschrieben wird, zerreißt das Geheul abgeworfener Bomben den Himmel über Kabul,“ schreibt der amerikanische Todeskandidat aus seiner Zelle: „Was wäre passiert, wenn Millionen von Amerikanern und Engländern, die sich mit Lebensmittelkarten durchschlugen und vor Tankstellen Schlange stehen mußten, 1942 erfahren hätten, daß die zum Rockefeller-Center gehörende Standard-Oil (ESSO) den Feind über die neutrale Schweiz mit Treibstoff der Alliierten versorgte?“

Um die Verwirrung von Gut und Böse geht es auch auf dem Podium. Dort wollen fünf Geschichtsforscher ihren Kollegen Götz Aly zur Rede zu stellen, weil er in einem Artikel über „Hitlers Volksstaat“ eine direkte Linie von der Oktober-Revolution zur nationalsozialistischen Umverteilung des Eigentums gezogen habe. Doch Aly erscheint nicht. „Wie können Leute, die als Linke anfangen, ganz rechts rauskommen?“ klagt Wolfgang Kröske alias Dr. Seltsam. Zugleich attackiert Hans Coppi vom Verein der Verfolgten des Naziregimes die fehlende „Breitenwirkung“ der eigenen Szene. Auf Gedenkveranstaltungen treffe man „immer dieselben Verdächtigen“. Erinnerung an die Nazizeit müsse beunruhigen, „damit überhaupt etwas passiert.“

Seit der Einführung des Gedenktages 1996 sind die Widersprüche dieses Rituals noch nie so deutlich hervorgetreten: Heute transformiert sich die Erinnerungsemotion auf Grund der Kriegsgefahr in Tagespolitik. Während die einen mit dem „Dritten Reich“ die Entwaffnung eines diktatorischen Massenmörders rechtfertigen möchten, begründen andere damit den eigenen Pazifismus. Zudem wirkt angesichts der Befreiung von Auschwitz deutsche Kritik am israelischen Militarismus, wo sie mit antisemitischen Ressentiments einhergeht, besonders zwiespältig. Politisch instrumentalisiert wird der Gedenktag auch durch die heutige Unterzeichnung des Staatsvertrages zwischen dem Zentralrat der Juden und der Bundesregierung; einen zukunftsweisenderen Symboltermin haben Nachkommen der Täter und Opfer offenbar für den Festakt nicht finden können.

Während die mythologische Chiffre Holocaust immer unbefangener für volkspädagogische Zwecke gehandhabt wird, wächst bei vielen das Bedürfnis, Details konkreter Ereignisse und das Gedächtnis authentischer Orte festzuhalten. An der Iranischen Straße in Wedding, einer stillen Sackgasse, wird heute um 16 Uhr eine Gedenktafel enthüllt: „Aus diesem Gebäude wurden von 1941 bis 1943 jüdische Mitbürger zur Ermordung in die Konzentrationslager der Nazi-Diktatur deportiert.“ Das efeubewachsene Haus des Bezirksamtes Mitte war früher ein Jüdisches Altenheim. Von den 114 Insassen hat keiner den Krieg überlebt. Die soziale Institution,eine Errungenschaft der Zivilisation, wurde umfunktioniert zur Sammelstelle.

Zum Auftakt des von der Mahnmal-Stiftung und den Brandenburgischen Gedenkstätten getragenen Programms in der Saarländischen Landesvertretung (siehe Kasten) ging es vor einer Woche um „Medizin und Völkermord“. Da steht hinter dem Referenten Paul Weindling das Gespenst Penthesilea, mit dem Vermächtnis des alten Europa für die schöne neue Welt der Nützlichkeit. Der Professor aus Oxford redet von 8000 bis 100000 medizinischen Opfern. Von Spritzen, Kälteexperimenten. Er berichtet, dass viele Wissenschaftler, die keine Nazis waren, aus Mangel an Labortieren Menschen benutzten und die Resultate nach dem Krieg verwendeten; auch Alliierte hätten sich dieser Arbeiten bedient. Er spricht von Vergangenem und führt zugleich vor, dass man vom Holocaust nicht reden kann, ohne das Heute zu denken. Er präsentiert eine Liste von 20 Kindern, TB-Versuchspersonen; dazu gehört – geboren am 26. Mai 1932, gestorben am 20. April 1945 in Hamburg – Jacqueline Morgenstern. Das ist ein schöner Name.

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