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Kultur: Die Gnade der späten Gewalt

Keine Angst vorm Siegen: Frank Castorf, der neue Leiter der Ruhrfestspiele, gibt mit „Gier nach Gold“ seinen Einstand in Recklinghausen

Volksbühne für Weicheier? Eingeknickt in der Fremde? Nur knappe und zwischendurch schlappe vier Stunden dauert Frank Castorfs Eröffnungsstück der Ruhrfestspiele, und eine richtige Pause gibt es auch. Ein paar einsame Buhrufer am Schluss, sehr freundlicher Applaus: Entwarnung an der Westfront?

„No Fear“. Die kryptische Parole der Ruhrfestspiele zielt auf das Angstpotenzial der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft, der die Gewissheiten und die Grenzen abhanden kommen. Sie zielt ebenso auf die Selbstzweifel der Berliner Volksbühnenstrategen. Die sind – wie die Brandstifter vom Biedermann – gerufen worden, das gewerkschaftliche Mai-Idyll von Recklinghausen zu erschüttern. Beide Seiten müssen fürchten, dass der Clash der Kulturen gut geht. Zu gut.

Spät in der Nacht, als der anachronistisch-gewaltige Recklinghäuser Gewerkschaftsfestspielkasten in den Gewittern der Partymacher vom Rosa-Luxemburg-Platz ins Schwingen kam, sah man den neuen künstlerischen Leiter milde lächelnd beim Tischfußball mit seinen Schauspielerinnen kickern – und rührend verlieren. Aber die große Partie, die hat Castorf gewonnen.

Es mag ein Pyrrhussieg gewesen sein. Nur, das sind Castorf-Premieren letztlich immer. Monster, die mühevoll laufen lernen. Die hinfallen, liegen bleiben, sich aufrappeln, weitertaumeln. Man muss sich die Furchtlosigkeit hart erarbeiten. Erst recht im Festspielhaus von Recklinghausen, das die Ausmaße der Deutschen Oper Berlin hat und die Volksbühnen-Helden mit ihren Häuschen erst mal recht klein und lieb aussehen lässt.

Castorf ist ein Regisseur der Asymmetrie. „Gier nach Gold“: Da greift er nach einem hundert Jahre alten amerikanischen sozialepischen Kolportageroman von Frank Norris, den keiner kennt („McTeague – A Story of San Francisco“), und gleichzeitig nach dem legendären Stummfilm des Hollywood-Monomanen Erich von Stroheim („Greed“, 1924), den keiner je im zehnstündigen Original sah, weil die Studiobosse damals nur eine verstümmelte Version herausließen, die grausam floppte. Eine Goldrauschgeschichte. Aber schon damals hörte der Wilde Westen auf, wild zu sein – und das Gold, das Geld, wurde zur alles beherrschenden Fiktion.

„Gier nach Gold“. Oder „Geiz ist geil“, in der Sprache der Werbung. Volksbühnen-Designer Bert Neumann, dem man auch in der Werbebranche eine große Karriere zutrauen könnte, hat auf seiner Bühnen-Western-Straße ein herrliches Klein-Babylon errichtet. Hier gibt es „Dreams for Sale“ und einen Schnellimbiss, der in polnischer Sprache vietnamesische und chinesische Küche anbietet unter dem Namen des koreanischen Diktators Kim Son Il. Über die matschige Straße gespannt ist die große Videowand – damit man sehen kann, was sich in den Buden der diagonalen Straßenzeile abspielt, zu Hause bei den Prolls, die man ja gern hat, ob sie nun Milan Peschel, Bernhard Schütz oder Silvia Rieger heißen, die Helden unserer Endlosserie („Gier nach Gold“ ab 22. Mai dann in der Volksbühne).

Das an sich Pornografische der Close-ups hat sich verwandelt – in Vertrautheit. Das Castorf’sche Heimkino, wie es in seinem „Idiot“ nach Dostojewski an der Volksbühne einsame Höhen erreichte: Diesmal wird nicht so exzessiv und auch nicht so raffiniert gefilmt. Und es gibt ein Problem. Man hat den Eindruck, dass sich die Volksbühnen-Family vielleicht zu gut, zu lange kennt, um den brutalen Egoismus, die blutige Engstirnigkeit, die „Gier nach Gold“ zu exekutieren, die uns erwartet – in einer Welt ohne Marx, ohne Arbeit, ohne Gott, ohne Kohle.

Verstörend aber schon, weil bei Castorf bisher nie gehört: Sir Henrys, des Hausmusikers, Soundtrack. Balkanisches Gedudel, Händel’scher Pomp. Das sind Klänge, die stark beunruhigen in ihrer feierlichen Sturheit – während die beiden männlichen Protagonisten lustig und locker vom Leder ziehen. Milan Peschel (als holländische Einwanderer Marcus) beschimpft in seinem Opening Publikum und Mitspieler wie einst Henry Hübchen in der schönsten Wendezeit. Und der falsche Doktor Bernhard Schütz (er spielt, mit Stroheim’scher Filmperücke, den Iren McTeague) nagelt seine Patienten auf dem Zahnarztstuhl fest und bohrt ihnen im Mund herum wie ein Kumpel, der unter Tage das schwarze Gold abbricht. Silvia Rieger irrlichtert als mexikanische Losverkäuferin durch die kleine Welt der Träumer, Spinner und Improvisationskünstler, eine falsche Welt, die etwas Heimeliges hat. Es laufen auch zwei echte Kampfhunde herum und richtige Kinder; was man so braucht für ein lebensechtes Theater, das seine Überraschungen und Schläge keineswegs dramaturgisch vorbereitet. Selbst der osteuropäische Jude Zerkow hat hier seinen – lebensgefährlichen – Platz. Es ist ein ziemliches Kunststück, wie Samuel Finzi den geprügelten Außenseiter mitlaufen lässt, wie er das Klischee des jüdischen Raffkes anspielt – in einer Umgebung, die nur ans Raffen denkt, an Geld, an Gold.

So zieht sich das hin. So dösen, raufen, rauchen sie. Schlagen die Zeit tot. Keine besonderen Vorkommnisse. Die Welt ist schlecht und mies, und Castorfs Truppe macht den Dreck, den Schwindel zum Familienfest. Aber es hat sich etwas eingeschlichen. Etwas, das man sogleich bemerkt, und etwas, das spät und vulkanisch hervorbricht. Da ist die Neue im Castorf-Ensemble: Birgit Minichmayr. Sie spielt, ach was, sie knallt das Mädchen Trina auf die Bühne. Die Unglückliche, die 5000 Dollar in der Lotterie gewinnt und keinen Cent herausrückt. Die den tumben McTeague heiratet, ohne mit ihm eine Ehe zu führen. Die verrückt ist nach ihrem Bargeld, das sie liebkost wie ein Kind. Die verliebt ist in die Idee von Reichtum – und in Armut stirbt. Birgit Minichmayr ist ein Hauptgewinn für die Volksbühne. Was für ein Theatertier. Die pure Kraft, ordinär, verletzlich. Als habe sie schon immer dazugehört.

Urplötzlich kämpfen sie, Peschel und Schütz. Wälzen sich in Schlamm und Blut, auf Tod oder Leben. Unfassbar, wie die Aufführung anzieht in der letzten halben Stunde. Wie die latente Gewalt Ausdruck findet, so surreal wie greifbar. Der Jude wird zum Indianer. Hendrik Arnst, die längste Zeit ein Stubenhocker: jetzt ein Conferencier des Teufels. Auf der Leinwand: eine Vergewaltigung und der Showdown in der Wüstenei und Peschel hoch zu Ross. Milan Peschel an der Rampe, entfesselt: verurteilt mit den Worten des Anarchisten Max Stirner die westliche Demokratie zum Tod. „Wir brauchen totalitäre, aber sinnstiftende Systeme.“ Dreieinhalb Stunden Castorf light, und auf einmal brennen alle Sicherungen durch. Erst Schneckentempo, dann die Eruption. Unwiderstehlich. Und schön, dass die Welt draußen so weit noch nicht ist. Dass wir also noch vor der großen Theaterpause leben.

Rüdiger Schaper

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