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Kultur: Die Größe der Blöße

Das Thema liegt in der Luft: Die Kunstmuseen hat den menschlichen Körper entdeckt. Schon im vergangenen Jahr hatte die Londoner Tate Gallery mit "Prüderie und Leidenschaft.

Das Thema liegt in der Luft: Die Kunstmuseen hat den menschlichen Körper entdeckt. Schon im vergangenen Jahr hatte die Londoner Tate Gallery mit "Prüderie und Leidenschaft. Der Akt in viktorianischer Zeit" vorgelegt - die Ausstellung wird ab März im Münchner Haus der Kunst gezeigt und sicherlich erneut zum Publikumsrenner. Gleichzeitig hatten Helmut Newtons langbeinige Supermodels in der oberen Halle der Neuen Nationalgalerie Berlin einen selbstbewusst provokanten Auftritt - und das Publikum strömte in Scharen. Auch die auf solide Werkschauen spezialisierte Kunsthalle Emden zeigt ab Oktober 2002 "Der Akt in der Kunst des 20. Jahrhunderts". Das Dresdner Hygiene-Museum lockt derzeit mit "Sex". Und die Fotografin Katharina Mourafidi schockierte in der Berliner S-Bahn mit einer großangelegten Fotokampagne, die nackte Frauen nach einer Brustkrebsoperation zeigt.

Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eröffnet nun mit der Ausstellung "Nackt. Die Ästhetik der Blöße" den diesjährigen Reigen. Schon Wochen vor der Eröffnung berichteten Magazine wie "Spiegel" oder "Stern" über das vermeindliche Reiz-Thema - und wählten zur Bebilderung natürlich auch die naheliegenden Produkte der Sex- und Silikonindustrie. Die vom "Blößenwahn" befallene Mediengesellschaft, die zu kritisieren die Hamburger Ausstellung anhebt, reproduziert sich in ihren Produkten reflexhaft selbst.

Im Widerstreit zwischen Wissenschaft und Voyeurismus verdankt auch die Hamburger Schau das große Interesse einem Missverständnis. Weder ein Pornokabinett und eine Freakshow ist in den Kabinetten im Obergeschoss des Kunstgewerbemuseums zu finden, sondern eine mit 300 Exponaten reich wenn auch etwas beliebig bestückte Kunstkammer, die dem Thema in allen Facetten zu Leibe rücken will - nicht mit dem geilen Blick des Voyeurs, eher mit dem kühl-sezierenden des Wissenschaftlers. Die Inszenierung mit ausführlich erläuternden Texten und acht Kapiteln verfehlt ihre Wirkung nicht: Selten ist sachlicher, fachlicher, weniger erregt über das Thema Sex und Erotik debattiert worden. Dass Kinder vor einem Einführungsfilm zur Ausstellung gewarnt werden, kann nur als übertriebene Vorsicht gewertet werden.

Natürlich gibt es Exponate, die noch immer provozieren: Oliviero Toscanis (nie verwendete) Vorlage von 1995 für eine Benetton-Kampagne rückt weibliche und männliche Geschlechtsteile aus aller Welt plakatgroß in den Blick. Yossi Lemel kritisiert 1996 mit einem "Scham-Davidstern" und der Frage "Wer ist Jude?" die Tradition, dass nur Kinder einer jüdischen Mutter als Juden gelten. Auch der japanische Fotograf Nobuyoshi Araki, der sadistisch gefesselte Models dem Betrachterblick darbietet, schockiert - und wendet den Schock ins Moralische, indem er auf den gesellschaftlich tabuisierten Zusammenhang zwischen Sex und Gewalt verweist: "Ich ziehe Fotos dem Sex vor."

Moralisch begründet ist das ganze Konzept der Ausstellung, wie der Kurator Nils Jockel offen bekennt: Die Idee kam ihm angesichts der Lewinsky-Affaire und der damit zusammenhängenden Selbstentblößung eines amerikanischen Präsidenten. "Von der Blöße in der Kunst zur Bloßstellung in der Öffentlichkeit" lautet die These, die im Verlauf der Schau als Verfallsgeschichte dargeboten wird - etwa, indem auf die Verführungskraft verwiesen wird, mit der im 19. Jahrhundert eine nackte Schulter und ein vom Hut verschattetes Gesicht in Szene gesetzt wird. Auch Alfons Mucha, dessen Plakat für den "Salon de Cent" 1896 in Paris einen Skandal auslöst, brauchte dazu kaum mehr als eine von Spitze kaum verhüllte zartrosa Brustwarze.

Verglichen damit wirkt die "sexuelle Revolution", die im Zuge von Anti-Baby-Pille und Studentenrevolution auch eine enthemmte Darstellung in der Öffentlichkeit propagierte, heute im Rückblick wenig aufregend. Die nackten Rückenansichten der Kommune 1, die kokett an einer Wand posieren, die freizügigen Foto-Arrangements Will McBrides, Helmut Newtons angestrengtes Spiel mit Sadomasochismus und Gewalt sowie Mapplethorpes und Greg Gormans muskulöse Bodybuilderinnen Lisa Lyon und Brigitte Nielsen - alles längst Geschichte. Der "Spiegel", der zu Beginn der 70er Jahre in einer ganzen Reihe von Vorlagen noch minutiös austeste, wie gewagt ein Titelbild zum Thema "Sex" erscheinen darf, wirkt angesichts der heutigen Bilderfülle geradezu großväterlich. Und Diane Arbus, die 1963 ältere Ehepaare in einem Nudistencamp fotografierte, enthüllt durch das penible Arrangement der kleinbürgerlichen Umgebung die Spießigkeit der vermeintlichen Befreiung.

Spannender dagegen die Passagen, die den Umgang der Kirche mit dem Thema "Blöße" belegen. Man muss nicht bis zu den Michelangelo aufgezwungenen Feigenblättern beim "Jüngsten Gericht" der Sixtinischen Kapelle zurückgehen: Auch Max Klingers "Christus am Kreuz" sorgte noch 1890 für einen handfesten Skandal. Der unbekleidete Corpus, nicht hängend, sondern auf einem Holzbrett sitzend gezeigt, musste übermalt werden - bis sich das verwendete Ochsenblut bei der kriegsbedingten Einlagerung von selbst auflöste. Auch beim Thema "Gewalt, Vergewaltigung und Demütigung" zeugen die Beispiele eines heiligen Sebastian oder eines Christus an der Martersäule vom heimlichen Genuss, der sich innerhalb der ikonologisch vorgeschriebenen Darstellungsform Bahn bricht. Wie direkt schließlich das alte Motiv des Sündenfalls mit sexueller Verführung verknüpft ist, zeigt prototypisch Max Beckmann, wenn seine Eva dem Adam nicht den Apfel, sondern ihre Brust zum Genuss bietet.

Das Thema Nacktheit in der Kunst ist untrennbar verknüpft mit der Suche nach idealer Schönheit und - wie soll es anders sein - vor allem eine Geschichte des männlichen Blicks auf das weibliche Geschlecht. Picasso hat in seinem Spätwerk die Beziehung zwischen Maler und Modell mit ihren erotischen Implikationen beispielhaft vorgeführt. Dass die Idealisierung gleichzeitig immer eine Form der Abstrahierung war, belegen die unzähligen Fotografien von Heinrich Zille bis Imogen Cunningham, die den elegant in Schwarz- und Weißflächen aufgelösten Körper zumeist fragmentiert, ohne Kopf und Identifikationsmerkmale zeigen.

Alexander Appelt geht in seiner Auftragsarbeit im Vorraum noch einen Schritt weiter, indem er per Computeranimation klassische kunsthistorische Posen scheinbar in Fleisch und Blut verwandelt. So werden die Aphrodite des Praxiteles, Botticellis Venus und Michelangelos David zu Mitmenschen - und beweisen eindrücklich, dass der nackte Leib hier in seiner Anspielung auf das Kunstwerk lockt und verführt. Eine Blickrichtung, die, statt zu entblößen, der Blöße ihren Mythos wiedergibt.

Christina Tilmann

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