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Hänselopfer. Paul Jumin Hoffmann als der etwas zu dicke Schnubbel. Foto: David Baltzer

© David Baltzer

Theaterpremiere II: Die Hau-Sau vom Hinterhof

„Schnubbel“: Das Grips-Theater zeigt eine Geschichte über jugendliches Mobbing – und kämpft gegen sein Finanzloch.

Tim ist zu dick. Zu unsportlich. Und zu sehr Schnubbel, um beliebt zu sein. So nennt ihn seine Mutter, auch vor den anderen Kindern. Klar, dass der Junge zum Spottopfer wird. Er geht auf die „Joan Baez Schule“, die stolz ist auf ihre Belegschaft aus 31 Nationen und sich als Modell-Institution rühmt. Was aber nicht verhindert, dass Kinder sich hier menschlich benehmen, also auch: grausam. Dass sie andere fertigmachen, um sich selbst für Momente ein bisschen besser zu fühlen. Tim wird vor allem von der Clique um Samira, Leila und Bodo bei jeder Gelegenheit gepiesackt, bis er blind um sich schlägt – und vor der Lehrerin als unbeherrschte „Hau-Sau“ dasteht. Es ist zum Heulen.

Zwölf Jahre lang hat Volker Ludwig nicht mehr für die junge Zielgruppe der Menschen ab 6 geschrieben, zuletzt „Julius und die Geister“. Jetzt legt er mit „Schnubbel“ eine Mobbing-Geschichte im Grundschul-Setting vor, die vor allem Mutmach-Stück sein will. Wie man’s vom Grips-Theater kennt und schätzt. Tim, den Paul Jumin Hoffmann zum Pummelchen aufgepolstert und bebend vor hineingefressener Wut spielt, findet in dem Späti-Besitzer Johnnie (wunderbar freakig: Christian Giese) einen Freund und Mentor. Dieser Ex-DJ hinterm Tresen rappt dem Jungen einen knackigen Kiosk-Song vor („Jeder will bei mir anschreiben, hab’s schon mit den Bandscheiben“), inklusive Utopie-Refrain: „Musik ist alles, was du brauchst“. Und ermuntert den Außenseiter, seinen Frust ebenfalls in Reime zu packen. Was Tim zögerlich, aber mit Naturtalent angeht: „Die anderen sind immer zu dritt / Stänkern und schubsen und einer tritt“. Hip-Hop als Wut-Ventil und Empowerment-Strategie fürs geschundene Selbstbewusstsein – das kommt den Wurzeln dieses Genres sehr nahe. Und bringt einen neuen Sound an den Hansaplatz.

Regisseur Yüksel Yolcu beherrscht die Kardinaltugend des Kinder- und Jugendtheaters glänzend: nah am jungen Publikum bleiben. Nachvollziehbar und empathiefördernd erzählen. Auch „Schnubbel“ist schnörkellos und ganz auf die Figuren konzentriert. Vor einer Videowand, die Berlin-Kulisse oder Schulhof markiert, mit schnell ausklappbarem Späti-Stand (Ausstattung: Ulv Jakobsen), nimmt Tims Wehr-dich-Geschichte Tempo auf. Wobei Yolcu mit großer Sensibilität auch die Beweggründe der Täter-Clique aus Ludwigs Text liest. Frei nach einem bekannten Grips-Song: Gemein gebor’n ist keiner, gemein wird man gemacht. Samira (Nina Reithmeier) lebt zwar in einer schicken Fabriketagen-WG, findet dort aber keine Beachtung und muss ihre Mitta-Mama beim Vornamen nennen. Bodo (Kilian Ponert), mit seiner Bohnenstangen-Statur selbst potenzielles Hänselopfer, leidet unter dem Erwartungsdruck seines Vaters, der seinen Sohn mindestens als Chef sehen will. Klar, auch die Elterngeneration hat’s nicht leicht. Wie Tims dauergestresste alleinerziehende Mutter (Katja Hiller), die den Sohn unabsichtlich demütigt: „Noch ein bisschen Sport, und schon wird mein Schnubbel schlank wie eine Pinie!“ Mobbing, auch unabsichtliches, beginnt zu Hause.

Ein Grips-Stück bester alter Schule. Und trotzdem ganz von heute. Die Live-Musik von Thomas Keller und Kompagnon Michael Brandt ist eingängig. Raps wie „Keiner holt mich ab“ oder „Paprika macht schlank“ sitzen. Das Ensemble (allen voran Paul Jumin Hoffmann!) spielt toll ungekünstelt. Und natürlich fehlt der hoffnungsvolle Ausblick nicht. Im Klassenrat werden die Probleme auf den Tisch gepackt, das Zauberwort heißt Miteinander. Das junge Publikum nahm’s restlos begeistert auf.

So absurd es klingt: für die Bühne am Hansaplatz sind solche Stücke trotzdem kaum zu bewältigender Luxus. Just am Premierentag gab das Grips eine Pressemeldung über seine nach wie vor prekäre Finanzsituation heraus. Zwar sind 2012 nach Berichten über die drohende Insolvenz – die eine enorme Solidaritätswelle zur Folge hatten – die Subventionen um 100 000 Euro jährlich erhöht worden. Erforderlich gewesen wären jedoch mindestens 150 000 Euro. „Für 2013 erwarten wir – aufgrund unseres strukturellen Defizits – ein Minus von 40 000 bis 50 000 Euro. Und das wird natürlich 2014/2015 immer schlimmer“, so Volker Ludwig. Die fehlenden Mittel wird auch der neu ins Leben gerufene Förderverein „mehr grips!“ nicht mal eben so beschaffen können. „Ein Skandal, wie knapp das Grips finanziert ist“, klagt dessen 1. Vorsitzender Börries von Liebermann. Man kann ihm nur recht geben. 50 000 Euro – solche Summen sind im Kulturetat immer aufzutreiben. Sofern nur der Wille da ist.

Wenn nichts geschieht, wird das Grips immer mehr Schulvorstellungen durch Abendvorstellungen ersetzen müssen. Weil die drei Mal höhere Einnahmen bringen. Ein weltweit gefeiertes Kinder- und Jugendtheater soll auf Kosten der Jüngsten sparen – zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

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