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Plagiatsdebatte: Die Leihen des jungen W.

Auch du, Goethe: Erfolgreiche Jugendliteratur war schon immer ein bisschen abgeschrieben.

„Mein Werk ist das eines Kollektivwesens, und es trägt den Namen Goethe.“ Dieser Satz ist ein Hammer, zumal er nicht gestern, sondern 1832 geäußert wurde und von einem damals 82-jährigen Autor stammt, der Weltliteratur schrieb. Blickt man mit diesem Satz auf sein meistgelesenes Buch, enthüllt sich schlagartig die ganze Absurdität der aktuellen Plagiatsdebatte um Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“: Erstens sind „Die Leiden des jungen Werthers“ zum Teil abgeschrieben, denn Goethe übernahm längere Passagen aus einem Brief seines Freundes Kestner – und das ohne jeden Hinweis und zum Teil wortwörtlich. Zweitens erinnerte sich ihr Autor noch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen ärgerlich, dass alle Welt am Werther vor allem interessierte, ob das denn bitte schön alles auch selbst erlebt beziehungsweise „wahr“ sei. Ähnliches wurde auch Hegemann vorgeworfen: Sie habe vieles von dem, was in ihrem Buch steht, nicht selbst erlebt, sondern abgeschrieben.

Den circulus vitiosus von Authentizitätsbegehren und Fälschungsverdacht hat sich moderne Literatur allerdings selbst eingehandelt: Seit Ende des 18. Jahrhunderts gehorchen literarische Texte keinen äußeren Regeln mehr, sondern nurmehr dem Innenleben ihrer omnipotenten Schöpfer. Statt das Gute, Wahre und Schöne zu imitieren, darf man literarisch nun alles, außer imitieren, kopieren oder gar plagiieren.

Das Aufregende an „Axolotl Roadkill“ wie an den Äußerungen seiner Autorin besteht darin, das dadurch entstehende Dilemma zeitgemäß vorzuführen. Originalität, Einzigartigkeit und Echtheit – das sind nicht nur Chancen, sondern auch Zumutungen, mit denen sich moderne Individuen konfrontiert sehen und die sie psychisch kaum anders einlösen können, als durch ein Kopieren von Individualitätsmustern. „Von mir selber ist überhaupt nichts“, war von Hegemann zu hören, „ich selbst bin schon nicht von mir (dieser Satz ist übrigens von Sophie Rois geklaut)“.

Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem, von Wahrheit und Fake ist folglich auch zentral für ihren Roman: „Alles ist echt, aber es gibt Momente, in denen die Wahrheit ein Fake ist“, heißt es darin. Das wiederum ist drängendes Thema aller Coming-of-Age-Literatur, bei Hegemann allerdings höchst zeitgemäß verquickt mit den aktuellen Debatten um das Urheberrecht und das Open-Source-Glaubensbekenntnis in Teilen der Netzgemeinde. Dabei erinnert sie lediglich an einen schlichten Tatbestand. Gute Literatur ist immer abgeschrieben, zumindest in Teilen, und die sind selten gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Autoren sind stets Kollektivwesen, dürfen es aber nicht sein, weil der Kulturbetrieb immer neue Stars braucht, und die haben immer anders, nämlich originell zu sein. Neben ihrer juristischen Dimension verfügt die Rede vom geistigen Eigentum implizit auch über eine Befehlsadresse: „Sei anders, sei originell!“ Das sind die gültigen ästhetischen Imperative.

Hegemanns Roman ist anders, weil er genau dieses Kopierverbot offen legt und produktiv macht. Und weil er auch dabei konsequent einem bestimmten Muster folgt: Sein Erfolg besteht darin, in zwei Richtungen anschlussfähig zu sein, die eigentlich nicht zusammengehen. Er ist unglaublich jung und ziemlich alt zugleich, gefällt sich in hingerotztem Trash einer auf alles scheißenden Jugendkultur – und liefert die kritische Theorie dazu gleich mit; er ist stellenweise saublöd und an anderen Stellen verdammt schlau, er kombiniert und kultiviert Street-Credibility mit akademischem Wissen – und das alles hochspekulativ und -kalkuliert.

Es ist dieser Spagat zwischen vermeintlich Unvereinbarem, der, wenn er gelingt, stets den Hype junger Literatur ausmacht, der aber wiederum stets umstritten ist und sein muss. So wie Irmgard Keuns Roman „Das kunstseidene Mädchen“ (1932), das – ganz jung, ganz arm, ganz hip – ein Glanz in Berlin werden will und die Wahrheit an der Oberfläche modernen Konsums sucht; oder Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ (1991), der die börsen- und markenfixierte Wall Street mit nächtlichen Sex- und Gewaltexzessen seines Protagonisten aufmischt; oder auch Christian Krachts „Faserland“ (1995) wo ein vermeintlich cooler Schnösel im Zustand alkoholisierter Hilflosigkeit von Nord nach Süd taumelt. Sie alle mischen Trash mit Höhenkammliteratur. Und noch eines ist ihnen gemeinsam: Ihre Helden sind allesamt moderne Konsumenten, und das gilt auch für ihren Umgang mit Kultur. Sie schaffen nicht aus dem Nichts, sondern aus einer Umwelt, die aus Zeichen besteht, von Adam und Eva bis zur Kondomverpackung.

Das Ich ist dabei kein anderer, das Ich ist vielmehr eine kleine Gesellschaft, ein Kollektiv mit allen Vor- und Nachteilen, mit allen Repressionen und Fluchtmöglichkeiten, die Kollektive anzubieten haben. Das literarisch umgesetzt zu haben, ist das Verdienst von Hegemanns Roman, der allerdings ohne den Hinweis im Klappentext, dass er von einer Siebzehnjährigen geschrieben wurde, wohl nicht so viel Aufsehen erregt hätte.

Thomas Wegmann

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