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Kultur: Die letzte Bastion

Der „Kirschgarten“ und sein Kern: Andrea Breths Tschechow am Wiener Burgtheater

Man vergisst so leicht, dass „Der Kirschgarten“ nicht nur Tschechows letztes Stück, sondern auch eine Komödie ist. Und man könnte schon einmal ernsthaft fragen, wie das gehen soll, eine Komödie, unter diesen Umständen. Denn mit dem „Kirschgarten“ beginnt, wovon in den anderen Stücken Tschechows so schmerzvoll-sehnsüchtig die Rede ist: die neue Zeit. Der Garten wird verkauft und abgeholzt, das Gutshaus abgerissen, Datschen sollen entstehen, die Eisenbahn ist schon da. Man schreibt in Russland das Jahr 1904, der Kapitalismus erscheint als Vorbote der Revolution.

So ähnlich hatte sich das Marx ja auch gedacht. Nur: Tschechows Figuren können nicht wissen, wie dieses Neue einmal beschaffen sein wird, wohin die Reise geht, was aus den Hoffnungen, Utopien und Zukunftsängsten wird. Liegt darin die menschliche Komödie? Ist das komisch, all diese kleinen und größeren Tragödien, die Tschechow wie eine Perlenkette aneinander reiht?

Peter Brook, Peter Stein und Peter Zadek haben große „Kirschgärten“ inszeniert, man erinnert sich an sie, bei aller Verschiedenheit, als wären es vorzeitige Endspiele einer noch in sich ruhenden Theaterepoche gewesen. Andrea Breth ist vielleicht die Letzte, die Verbindungen hat zu jener Zeit. Andrea Breth und die Burg: Traditionalisten behaupten hier ihre letzte Bastion.

Doch der Wiener „Kirschgarten“ treibt seltsame Blüten. Die Kirschen sind gegessen, die neue Zeit hat lange schon begonnen, wenn der erste Blick auf die Szenerie fällt – auf ein monströses Lüftungs- oder Abwasserrohr. Es hat keine Funktion, außer dass es drei Stunden lang einen irritierenden Blickfang abgibt in diesem riesigen Tanzsaal oder Loft mit den meist verhangenen Fensterfronten. Industriearchitektur, nichts Gestrig-Verwunschen-Schönes: Gisbert Jäkels Bühne ist brutal desillusionierend. Alles wird in diesem Innenraum gespielt, auch die Außenszenen. Die Lokomotive, die Stanislawski einst Tschechow für eine „Kirschgarten“-Bühne vorschlug, hätte hier Platz.

Wenn es so etwas überhaupt gibt, dann ist der Grundgestus der Inszenierung: hektisch-elegisch. Mit Albernheiten, über die man erst einmal hinwegkommen muss. Zum Beispiel liegt der alte Familienschrank, der ein Eigenleben hat und von Tschechow mit einer persönlichen Abschiedsrede gewürdigt wird, umgekippt auf dem Rücken. Die Stühle sind immer schon gestapelt, die Sessel demonstrativ verschoben. Und Firs, der uralte Diener, muss einen so runden Buckel machen, dass die achtlose Jugend Tabletts draufstellen kann; eine Tortur für Ignaz Kirchner. Der Wurm ist drin in der Symbolik.

Die erste Szene, Ankunft der bankrotten Gutsbesitzerin Ranewskaja mit ihrer Entourage aus Paris: ein Gefuchtel und Gekichere, ein Gekippel, eine künstliche Aufgeregtheit, die sich nie legt. Andrea Clausen, edel und schmal und ein bisschen blutarm, kommt über eine gespielte Salon-Nervosität kaum hinaus. Die Hausherren, die Gäste, die Angestellten – sie bilden immerzu Sitzgruppen, um sogleich aufzuspringen und sich weiter hinten niederzulassen in der Leere des Raums mit dem fürchterlichen Rohr.

Diese Gesellschaft ist am Ende, erledigt, abgeschrieben, man quält sich über die letzte Etappe. Was dabei am meisten überrascht, ist die Ungeschicklichkeit der Arrangements, der aufgesetzte Ton. Eine Welt, die an sich selbst verzweifelt, die sich selbst kein Wort mehr glaubt. Wie Gajew, der alte Schwatzkopf, der Bruder Ranewskaja: Fast flüsternd macht Udo Samel seine kauzigen Billardsprüche, Tränen in den Augen; kein Widerstand mehr gegen das, was kommen muss. Gajew könnte Firs’ jüngerer Bruder sein, über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg, die nun fallen und längst gefallen sind.

So eine traurige, nein: triste Komödie hat man lange nicht gesehen. Das geht hier zu wie bei einem schlesischen Unternehmerstück von Gerhart Hauptmann. Die Regisseurin hat offenbar genug von ihrer Filigranpsychologie. Sie schlägt um sich. Will mit diesem klassischen Stück des Übergangs aus der gepflegten Ästhetik ausbrechen, für die sie – vielleicht fälschlich – so sehr geschätzt wird. Aber die Beharrungskräfte des Burgtheaters und auch der Breth’schen Regiesprache sind enorm.

Das letzte große Fest auf dem Gut dirigiert Andrea Breth gleichsam als Sturm aufs Petersburger Palais. Eine Heerschar betrunkener, pöbelnder Gäste und Musikanten entert mit Karacho den Saal – und ist sogleich wieder in der Kulisse verschwunden. Das sollen sie wohl sein, die neuen Menschen. Verheißen nichts Gutes. Werden hier auch ein bisschen denunziert. Lopachin, der neue Besitzer des Kirschgartens, geriert sich im Rausch als Rädelsführer. Seine Vorfahren haben auf dem Gut als Leibeigene geschuftet, jetzt tanzt er besoffen auf dem Büfett, reißt das Mikrofon der Musiker an sich, grölt seinen Triumph heraus.

Lopachin ist der Mann des Abends. Sympathischer Grobian, so unsicher wie ungeduldig. Wenn dieser Lopachin, wenn Sven-Eric Bechtolf auf der Bühne ist, dann hat die zerfahrene Aufführung ein Zentrum, ein Gesicht. Lopachin will aber nur fort, arbeiten, Geld verdienen. Varja, die Pflegetochter der Ranewskaja, würde ihn heiraten. Liebt ihn. Eine zarte Blonde, die sich zur Resolutheit zwingt. Dann wäre alles gut oder aufgeschoben. In der Sekunde größter Verlegenheit und Intimität, wenn Teresa Weißbach und Sven-Eric Bechtolf den Heiratsantrag vermasseln, kapiert man, wie das gemeint ist mit der Komödie. Sie kriegen sich nicht, sie hatten sich doch schon. Dieser eine Blick. Darin liegt der ganze Tschechow. Aber es ist zu spät. Für die beiden, für das Gut. Für diesen „Kirschgarten“.

Auch für uns? Wollte Andrea Breth auf ihre umständliche Art sagen, dass wir gemeint sind, die Opfer einer neuen Revolution des Kapitals?

Rüdiger Schaper

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