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Kultur: Die männliche Jungfrau

Robert Lepage spielt sein grandioses „Andersen Project“ im Berliner Festspielhaus

Der Schein trügt, und wie! Noch immer wirkt der mittelgroße, leicht rundliche Endvierziger auf den ersten Blick wie ein verträumter Junge. Und doch ist der Frankokanadier Robert Lepage ein unaufhörlich glühendes, sprühendes Kraftwerk der Fantasie. Er ist ein Theater-Tycoon, mit seiner Factory in Quebec, mit einem 150-Millionen-Dollar-Seitensprung nach Las Vegas, wo er für den „Cirque du Soleil“ die wohl teuerste und in ihrer Weise erfolgreichste Show aller Zeiten auf die Bühne stellte. Lepage, der seine Stücke als Gesamtkunstwerke selber schreibt und inszeniert, der die Bühnen entwirft, sie mit filmischen Projektionen und Projekten von Filmen verbindet – und alles oft selber spielt. Auf der Bühne oder im Kino.

Ab heute sieht auch Berlin ihn wieder: als grandiosen Solisten und multiple Persönlichkeit, als wunderbar tragischen Komiker im Festspielhaus, wo er, der Außereuropäer, dem Festival „spielzeiteuropa 06/07“ einen zweiten Höhepunkt beschert, nach Christoph Marthalers „Schutz vor der Zukunft“.

Ein Vergleich auf Anhieb wäre der ebenfalls rund um den Globus agierende Texaner Robert Wilson. Doch dessen Stil ist künstlicher, kompakter. Bei Lepage scheint alles offener und fließender, er lässt dabei eher an einen modernen Max Reinhardt denken: Nachglanz des märchenhaften Regiezauberers, der auch als Berliner Theatergroßunternehmer und Salzburger Festspielgründer am liebsten „die Kindheit in der Tasche“ trug. Ein anderer Wahlverwandter wäre Orson Welles, das Genie mit dem ebenso trügerisch weichen Jungengesicht.

Märchen und Kindheit sind auch die ersten Schlüsselbegriffe bei Robert Lepages auf Englisch mit Übertiteln gespieltem „Andersen Project“. In Quebec geprobt und dort schon als Work in progress gezeigt, wurde das „AP“ letztes Jahr zum 200. Geburtstag des dänischen Märchendichters Hans Christian Andersen in Kopenhagen uraufgeführt (Tsp. vom 20. 5. 2005). Lepage hat da freilich nicht nur die Dänen verblüfft. Denn sein „Andersen“ spielt vor allem in Paris. Und der Abend beginnt mit einer Absage. Natürlich geht’s nicht um diese Aufführung, doch ohne alle Tricks und gimmicks schon vorab zu verraten: Lepage führt uns mit einem film-theatralischen Kniff in die französische Nationaloper; wir selber sind das Publikum im goldenen „Palais Garnier“, und Lepage als Herr im Frack ist mit weißblonder Perücke ein Opernmann von heute wie auch ein Besucher des Pariser Hauses im 19. Jahrhundert.

Der Besucher von einst war Hans Christian Andersen. Das ist authentisch. Doch Lepages HCA tritt hier auf als Fiktion eines frankokanadischen Rockmusikers, der für das Garnier eine Kurzoper nach Motiven des wenig bekannten Andersen-Märchens „Die Dryade“ schreiben soll. Diese Dryade ist eine Baumnymphe, die sich als einmaligen Wechsel von der Natur in die Großstadt eine Nacht in Paris mit den Lichtern der (auch von Andersen besuchten) Weltausstellung 1867 erträumt. Nach ihrer Entwurzelung wird sie dann ein glückseliges, ein todtrauriges Opfer des Fort-Schritts.

Lepage wiederum zeigt sein kanadisches Alter Ego, den Rockwriter Frédéric Watson, als lebenstrauriges und mit jedem Verhängnis urkomischeres Opfer des internationalen Kulturbetriebs. Die Pariser Oper hat den neuen Orpheus in einer Wohnung über der Unterwelt eines schlecht isolierten Pornokinos einquartiert. Von dort klingen Ächzen und Stöhnen empor zu dem Mann, der eine Kinderoper über jenen Dichter erfinden soll, der Kinder recht eigentlich hasste. Der als leidenschaftlicher Onanist auch die Pariser Bordelle besuchte, aber zeitlebens eine männliche Jungfrau blieb. Ein so romantischer wie verklemmter Homosexueller, der auch als berühmter Autor eine angebetete Schauspielerin nur in Gedanken und, wie bei Lepage, als Modepuppe entkleiden konnte.

So spielt Robert Lepage mit Ängsten und Andersen, mit Paris, Porno, Puff und Nymphen-Träumen auf mehreren Ebenen. Sein Rock-Orpheus ist zudem dabei, seine Eurydike in Kanada zu verlieren, was wir bei seinen Ferngesprächen allein aus Lepages Antworten erfahren. Irr und witzig auch, wie der Komponist in Paris sowie bei Kurzbesuchen in London und Odense (Andersens Geburtsstadt) immer tiefer in die Abgründe einer mit EU-Geldern subventionierten französisch-dänisch-englischen Koproduktion gerät. Sein „Andersen Project“ wird so nur zum Alibiprojekt eines blasiert intriganten, dem Pariser Kulturbetrieb hautnah abgelauschten Opernmanagers. Wobei dieser Herr sich als Besucher eben jenes suborphischen Pornoschuppens entpuppt, was Lepage (schon vor den Pariser Unruhen) mit dem Schicksal eines marokkanischen Banlieuebewohners verbindet. Große Oper und ein rassistisch obsessiver Direktor als kleiner Diktator.

Das alles und viel mehr passiert in zwei Stunden: dank Lepages virtuoser Verwandlungskunst und seinem ingeniösen Spiel mit Kulissen und Requisiten. Ein Gummifeudel wird da zum Hexenbesen und, wisch, wisch in den Pornokabinen, zum Abbild einsam feuchter Männerträume. Oder ein Slapstick mit nichts als einer Hundeleine erzählt nebenbei noch ein ganzes Tierleben, das seinerseits in der Sprechstunde eines Hundepsychiaters zur schönsten Ärzte- und Künstlersatire wird. Watson hat keine Chance. Aber Andersen lebt und hätte sich totgelacht.

„The Andersen Project“. Berliner Festspielhaus 7. - 11., 13. - 17. Dezember, 20 Uhr (am 10. und 17. um 19 Uhr). Tel. 030-25489-100. www.berlinerfestspiele.de

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