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Kultur: Die normative Kraft des Physischen

Die Gesellschaft ist nicht mehr der fraglose Horizont der Gegenwartsdiagnose. Der Aufstieg eines wie auch immer gearteten biologischen Weltbildes macht sich bemerkbar und stellt manche intellektuelle Gewohnheit in Frage.

Die Gesellschaft ist nicht mehr der fraglose Horizont der Gegenwartsdiagnose. Der Aufstieg eines wie auch immer gearteten biologischen Weltbildes macht sich bemerkbar und stellt manche intellektuelle Gewohnheit in Frage.

Man sagt, die neuen Intellektuellen hießen nicht mehr Jacques Derrida, Richard Rorty oder Jürgen Habermas, sondern Stephen Jay Gould, Steven Pinker oder Francisco Varela. Wo die einen über die Täuschungen der Allgemeinbegriffe, die Illusionen der Erkenntnistheorie oder den Strukturwandel der Öffentlichkeit aufklären, fragen sich die anderen, woher das Lächeln des Flamingos kommt, welche Sprache ein Kind sprechen würde, das von Wölfen großgezogen wird, oder wie das menschliche Immunsystem funktioniert. Nicht mehr die "Gesellschaft", sondern das "Leben" sei der eigentliche Rätselbegriff der Jetztzeit.

An der Gegenwart vorbei

Richtig daran ist, dass die Fragen von heute bei den sozialwissenschaftlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts nicht so recht aufgehoben zu sein scheinen. Seit dem Fall der Mauer und der Entzifferung des Erbgutes ist der Vorstellungshorizont des Menschenmöglichen nicht mehr auf das Problem der Gesellschaft zu reduzieren. Die Trennungen und Unterscheidungen, die die Welt des Fließbands, des Weltbürgerkriegs und der Neurosen strukturierten, laufen mehr und mehr ins Leere. Zwischen "Privatheit und Öffentlichkeit", zwischen "Kapital und Arbeit" oder zwischen "Kultur und Natur" entscheidet sich nichts mehr. Wer sich unter dem Leitfaden solcher Aufteilungen noch die Welt zu erklären versucht, verteidigt und alarmiert am Gegenwartsempfinden vorbei.

Es gehört zur Welt des 21. Jahrhunderts, dass Fragen nach dem Ursprung des Geistes, dem Anfang des Lebens und dem Ganzen der einen Welt mehr mit den Lebenserfahrungen und Deutungsbedürfnissen der Leute zu tun haben als Theorien der Rationalisierung, Differenzierung und Individualisierung. Da wird erklärt, wie die Gesellschaft so geworden ist, wie wir sie kennen, aber es fehlen Vorstellungen für die in den Alltag jedes Einzelnen reichenden Welten des persönlichen Computers, der biologischen Labors oder der selbstbeweglichen Finanznetzwerke.

Ob man ins Internet geht, sich einem Gesundheitscheck unterzieht oder einen Vertrag über eine private Altersversicherung abschließt, man verbindet unweigerlich sein persönliches Schicksal mit Systemen dieser Art. Wo endet hier der Glaube, und wo beginnt das Wissen? Deshalb sucht man nach Deutern, die einem sagen können, wozu der Mensch noch in der Lage ist und worauf man sich trotzdem immer noch verlassen kann.

Unter den Einflüsterungen der Propagandisten einer neuen, "dritten" Kultur von künstlicher Intelligenz, Chaostheorie, inflationärem Universum, unterbrochenem Gleichgewicht und Gaia-Hypothesen hat das Feuilleton ziemlich genau mit der Jahrhundertwende auf die Veränderungen im Denken reagiert, gefällt sich aber zu sehr im fröhlichen Biotop, als dass es in der Lage wäre, begründete Unterscheidungen zwischen Predigern vom Schlage eines E. O. Wilson, Bill Joy oder Ray Kurzweil und den wirklichen Denkern des Jetzt zu treffen. Auch aus diesem Grund hat der Schlag des 11. September ins Mark getroffen, weil wir mit einem Mal aus der Welt technischer Märchen in die Wirklichkeit einer verwundbaren und verwundeten Gesellschaft geworfen worden sind.

Was sich im Zeichen von BSE schon andeutete, hat jetzt ein Symbol gefunden: Wie anfällig die Existenz des Einzelnen in einer Welt jenseits der festgestellten Unterscheidungen von Ost und West, Mensch und Maschine, Individuum und Gen geworden ist. Um zu begreifen, was uns hier ergreift, ist es zuerst nötig, sich Rechenschaft über die Krise des Gesellschaftsverständnisses zu geben, das uns über eine lange Nachkriegszeit begleitet hat. Die Infragestellung des Gesellschaftsbegriffs kommt heute von zwei Seiten: von der Erfahrung einer Unverfügbarkeit der Dinge auf der einen und von der Erfahrung einer Verfügbarkeit über die menschliche Natur auf der anderen Seite. Zum Fürsprecher der Dinge macht sich heute vor allem der französische Techniksoziologe und Wissenschaftsforscher Bruno Latour. An einfachen Beispielen wie dem "Berliner Schlüssel" oder dem Sitzgurt im Auto macht er auf die spezifische Normativität der Dinge aufmerksam, die das Verhalten des Einzelnen auf eine automatische und anonyme Weise auf die Linie bestimmter Sequenzen und Konfigurationen bringt.

Dazu muss man an nichts glauben und braucht nichts für richtig zu halten; die Dinge leiten einen still, aber nachdrücklich durch eine Welt voller Missverständnisse und Hindernisse. Die Erfahrung mit dem evokativen Gerät des Computers zeigt überdies, dass in der alltäglichen Wirklichkeit nicht wir mit dem Rechner, sondern der Rechner mit uns spielt.

Latours Auffassung nach hindert uns das von der Obsession kategorieller Reinigungen beherrschte Selbstmissverständnis der Moderne daran, die "wahnsinnige Vermehrung" der aus Kultur und Natur geborenen Mischwesen zur Kenntnis zu nehmen, welche als kommunikative "Quasi-Objekte" die eigentliche Vermittlungs- und Übersetzungsleistung der gesellschaftlichen Synthesis vollbringen. So wie sich das 17. Jahrhundert der symmetrischen Erfindung der wissenschaftlichen Fakten und des politischen Bürgers widmete, hängen heute der "Netzwerkstaat" (Manuel Castells) und die Laborforschung zusammen.

Die Macht der Dinge

Bei den "Quasi-Objekten" mit Namen wie DNS, MS-DOS oder GPS (Global Positioning System) handelt es sich nicht um Repräsentanten eines Wissens, das auf seinen Einsatz durch einen kollektiven Willen oder die menschliche Vernunft wartet. Sie mischen sich vielmehr in die gesellschaftlichen Angelegenheiten ein, indem sie als Medien der Kommunikation, Distribution und Reproduktion eigene Ansprüche stellen und eine spezifische Intentionalität entfalten. Sie stellen Verbindungen her, kontrollieren Effekte und prognostizieren Ereignisse. Weder die Post noch die Börse würden ohne sie funktionieren.

Damit die Gesellschaft sich überhaupt noch selbst wahrnehmen kann, muss sie dieser Auffassung nach vom "übersozialisierten" Bild des Menschen Abschied nehmen und die Dinge als Subjekte eigener Art in sich aufnehmen. Diese postsoziale Gesellschaft ist dann mit den Gesellschaftsverträgen des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu regulieren. Normative Integration, weltanschauliche Zentrierung und kriegerische Aktivierung formieren die Leute für den Augenblick, gewähren aber keine Dauer gesellschaftlicher Gebilde. Die ironische Formel vom "Parlament der Dinge" signalisiert die Notwendigkeit eines neuen Denkens der Bindungen zu nicht menschlichen Objekten, der Zusammenballung von Ereignissen ohne einen gemeinsamen Ursprung und des Wissens als soziales Band für virtuelle, aber intensive Gemeinschaften.

Beim biotechnologischen Angriff auf den Gesellschaftsbegriff geht es nicht einfach um die Renaturalisierung von Geschlechterverhältnissen, sozialer Ungleichheit oder kultureller Differenzen. Daher kommt man mit den Strategien ideologiekritischer Entlarvung oder historischer Kontextualisierung, wie wir sie aus den vergangenen, immer schon vorweg entschiedenen Debatten über das Verhältnis von Anlage und Umwelt kennen, hier nicht weiter. Dahinter verbirgt sich vielmehr die langfristige Umstellung des generellen wissenschaftlichen Leitmodells von der Physik auf die Biologie.

Wo sich das Weltbild der klassischen physikalischen Wissenschaften auf die Prinzipien von Determinismus, Universalismus und Finalismus stützt, beruft sich die auf die moderne Synthese von Darwin und Mendel zurückgehende Biologie auf Pluralismus, Kontingenz, Rückbezüglichkeit, Emergenz und Singularität. Was sich im heutigen sozialwissenschaftlichen Denken über die Stärke schwacher Bindungen, den strukturellen Vorteil loser Koppelungen und die Irreversibilität der historischen Zeit findet, ist dem biologischen Denken keineswegs fremd. Deshalb sticht die soziologische Karte, was die Differenz im Methodologischen betrifft, nicht mehr.

Aber wichtiger noch für den Aufstieg des biologischen Weltbilds ist die Verbindung des natürlichen Selektions- mit einem gesellschaftlichen Optimierungsdispositiv. Die ursprünglich von den Vertretern des Gesellschaftbegriffs mit eschatologischem Feuer vorgebrachte Kritik an definitiven Vorstellungen von der Natur des Menschen wird jetzt von den Propheten der Biotechnologie in Anspruch genommen. Warum nicht durch gezielte Eingriffe Krankheiten heilen, Körper verbessern und Menschen menschlicher machen?

Die Idee von der Geschichtlichkeit des Menschen beschränkt sich nicht mehr allein auf Kultur und Gesellschaft, sondern umfasst nunmehr auch die menschliche Natur und den menschlichen Körper. Es kommt im Augenblick nicht darauf an, was man wirklich machen kann, sondern auf die Veränderung unseres Vorstellungsvermögens. Da findet der Mensch als Gattungswesen wie als individuelles Exemplar seinen Maßstab nicht mehr in sich und seinem Wesen, sondern ist sich in einem fundamentalen und existenziellen Sinne zum Experiment geworden. Damit hat der sozialwissenschaftliche Intellektuelle womöglich sein Kapital verspielt. Die Gesellschaft, die sich der Performativität der sozialen Dinge und der Konstruktivität der menschlichen Natur überantworten muss, stellt keine gute Grundlage für "Beobachtungen zweiter Ordnung" dar. Sie markiert nicht mehr den letzten und höchsten Systembezug der emergenten Ordnungen, wo das Prinzip der Vermittlung zum absoluten Gesetz geworden ist.

Früher sagte man, es gebe nichts unter der Sonne, das nicht gesellschaftlich vermittelt sei. Nicht die Natur, nicht der Mensch, nicht die Seele und schon gar nicht die Sexualität und am Ende nicht einmal das Geschlecht. Heute stellt sich die Frage, was denn damit gemeint sei. Doch wohl nicht, dass Natur, Mensch, Seele, Sexualität und Geschlecht "letzten Endes" gesellschaftlich bestimmt seien. Man macht jetzt den "blinden Fleck" eher auf Seiten der Gesellschaft als im Blick auf die mit den anderen Begriffen bezeichneten Wirklichkeitsaspekte aus.

In dieser Situation bietet sich der Lebensbegriff als Ersatz für den schal gewordenen Gesellschaftsbegriff an. "Leben" ist heute nicht nur ein Zusammenhangs- und Ganzheitsbegriff, sondern zugleich ein Veränderungs- und Entwicklungsbegriff. Das zeigt sich an den dominierenden Debatten in den Lebenswissenschaften, wo beispielsweise die Neuauflage des Materie-Geist-Problems als Interaktion von "Gen" als Informationspaket und "Individuum" als körperlichem Gebilde deshalb so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil es nicht nur um die Klärung der Dimensionen und Ebenen natürlicher Selektion, sondern immer auch um die Freilegung der Ansatzpunkte und Folgewirkungen menschlicher Interventionen geht. Das Leben stellt längst kein selbsterzeugendes und selbstgenügsames Geschehen mehr dar, das als in sich absolut und als alles umfassend gilt, sondern ist als Entwurf seiner selbst denkbar geworden.

Der Mensch als Möglichkeit

Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen der Fassung des Lebensbegriffs um die Wende zum 20. und der um die Wende zum 21. Jahrhundert. Wenn Georg Simmel die kulturellen Objektivationen seiner Zeit aus ihrem Lebensgrund und Lebensbezug deutete, dann war er sich eines verborgenen Prozesses bewusst, der sich zwar ständig übersteigt, aber immer wieder zu sich selbst zurückkehrt. Das ist heute anders. Wir glauben nicht mehr an diese vorgängige und dunkle, aber schaffende und begründende Einheit und Ganzheit des Lebens. Im biotechnologisch denkbaren Vorgriff auf uns selbst haben wir den Ursprung des Lebens verloren.

Wenn die sozialwissenschaftlichen Intellektuellen als Antwort auf diese biologische Redefinition des Lebensbegriffs allerdings auf ihrem naiven Soziozentrismus beharren, dann verlieren sie nicht nur den Anschluss an die wissenschaftliche Entwicklung, sondern entwerten sich selbst, disqualifizieren sich fürs Denken des Menschenmöglichen. Ein Punkt nämlich ist gemacht: Der Mensch ist nicht bloß ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern zuerst und zuletzt Ausdruck seines eigenen Seinkönnens.

Heinz Bude

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