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Kultur: Die Oper aller Opern

Innsbruck: René Jacobs und Barrie Kosky feiern Monteverdis „Orfeo“ als Musiktheater des 21. Jahrhunderts

Der Gedanke ist durchaus beunruhigend: Sollte es möglich sein, dass ausgerechnet die allererste richtige Oper der Musikgeschichte bis heute auch die beste geblieben ist? Dass es, „Zauberflöte“ hin, „Tristan“ her in vierhundert Jahren nicht gelungen sein sollte, die großartige Perspektive von Claudio Monteverdis „Orfeo“ zu erfüllen? Dass dieses Einkasteln des „singenden Menschen“ (Felsenstein) in prächtige Bühnenrahmen, das Schicksal im Schaukasten, nur wegführt von den Möglichkeiten eines theatralen Gesamtkunstwerks, die Monteverdi und sein Textdichter Alessandro Striggio anno 1607 mit ihrer „Favola in musica“ so verblüffend klarsichtig umrissen? Ja dass mithin die Oper überhaupt nichts anderes ist als eine luxuriöse Fehlentwicklung?

Seit den ersten Wiederaufführungen des „Orfeo“ vor fast hundert Jahren gibt es diese Stimmen, haben helle Köpfe schon in den vom jeweiligen Zeitgeschmack reichlich entfremdeten musikalischen Darstellungen dieses Werks eine ganz andere Art von Musiktheater erkannt - eines, das aus Wort, Ton und der Aktion im Raum eine Kunstwelt um den Zuschauer herum aufbaut. Inzwischen haben Aufführungen und Forschungen das Stück längst von der Patina wohlmeinender Einrichtungen und Überarbeitungen gesäubert, und doch ist es René Jacobs überlassen geblieben, das zutage liegende Potenzial des „Orfeo“ endlich in ein atemberaubendes Musiktheatererlebnis zu verwandeln.

Freilich: Wer wenn nicht Jacobs hätte dies leisten können? René Jacobs, der Wunderdirigent der Barockoper, der seit nunmehr zwanzig Jahren die unbändige Lebenskraft und Aktualität dieser Musik beweist, der bei seinen Innsbrucker Festwochen und an der Berliner Staatsoper (den beiden wichtigsten Fixpunkten seines Wirkens) ein Meisterwerk nach dem anderen aufreiht wie Perlen an einer Schnur.

Die Opern Monteverdis, betont Jacobs in Interviews immer wieder, stünden im Zentrum seiner Arbeit und hätten sein Verständnis von Musiktheater entscheidend geprägt. Dieser neue, von Innsbruck und Berlin koproduzierte „Orfeo“, der im Januar den Auftakt zu einem Monteverdi-Zyklus an der Staatsoper geben wird, ist seine vierte Auseinandersetzung mit dem Stück – sie gerät zu einem triumphalen, ja epochalen Opernabend.

Denn Jacobs nimmt Monteverdi beim Wort und füllt den gesamten Saal des Tiroler Landestheaters mit Klang: Die Musiker sitzen nicht nur im Graben, sondern auch auf den Rängen, auf, hinter und unter der Bühne, es gibt nicht nur ein, nein gleich vier Orchester (zusammengestellt aus der Akademie für Alte Musik und dem Concerto Vocale), die in faszinierend perfektem Zusammenspiel Höllen-, Erden- und Sphärenklänge ausmalen. Statt bloß im konventionellen Opernsinn zu begleiten, schafft die Musik selbst hier den Raum, teilt den Saal in Ober- und Unterwelten, zugleich aber auch in eine äußere, handlungstragende, und eine innere Musik, die der Künstler Orfeo im Innersten zu hören scheint und geradezu manisch auf zahllosen Notenblättern fixiert. Wenn Orfeo schon zu Beginn den Melodien lauscht, die als körperlose Klangwolken von der Hinterbühne aufschweben, wenn ihn später, nach dem endgültigen Verlust Eurydices, das Echo der eigenen Töne als beißende Verhöhnung seiner Selbstüberschätzung foltert, ist man mit einem Mal mittendrin in der musikalischen Moderne.

Dass man dies alles nicht nur hört und sieht, sondern auch ganz unmittelbar fühlt, liegt jedoch nicht allein an der Musik. Mit dem Australier Barry Koskie, dem künstlerischen Leiter des Wiener Schauspielhauses, hat Jacobs einen Regisseur gefunden, der sein spirituelles Konzept auf eine verblüffend plastische, ganz unmittelbare Weise umsetzt. Wie bei seiner Inszenierung von Ligetis „Grand Macabre“ an der Komischen Oper, dem Überraschungserfolg der letzten Saison, kommt Koskie dabei oft mit ganz einfachen Mitteln aus: Die Bühne (Claus Grünberg) ist meist ziemlich leer, der Abstieg in den Hades findet in fast völliger Dunkelheit im Licht einer einzigen Glühbirne statt. Nur in den Hirtenszenen der ersten beiden Akte gibt ein schwankender Wald grünschwarzer Stangen einen Fingerzeig, dass auch diese vermeintlich bukolische Welt nur die Projektion einer Gesellschaft ist. Die fabelhaften Chorsolisten des Vocalconsort Berlin reißen dem Musiker Orfeo seine Notenblätter aus den Händen, brauchen die Kunst, um die Illusion einer verloren gegangenen Natur aufrechterhalten zu können – und sind an der Selbstüberschätzung Orfeos, die Unterwelt zu besiegen, durchaus mitschuldig.

Denn Jacobs und Koskie erzählen nichts anderes als die Fabel vom verblendeten Künstler, der vergisst, dass seine Kunst von Gott kommt, der zwar die Unterwelt besiegen kann, aber nicht seine eigenen Gefühle. Eine Geschichte mit bitterem Ende: Gottvater Apollo, der Orfeo am Ende die Vision einer wahren Kunst zeigen soll, ist hier bloß eine geheimnisvolle Spukerscheinung. Die Seelenruhe, scheint dieser geheimnisvolle Untote anzudeuten, gibt es nur im Grab – kurz darauf wird Orfeo zu den stockenden Klängen der abschließenden Moresca von den Bacchantinnen zerrissen.

Dass man mit diesem Orfeo jubelt, trauert und verzweifelt, liegt freilich auch an Stéphane Degout. Der junge französische Bariton ist Orfeo. Die Koloraturen für seine horrend schwere Arie „Possente spirito“ besitzt er ganz selbstverständlich (allein dies macht ihn schon zur Ausnahmeerscheinung), doch die Faszinationskraft seines Auftretens liegt jenseits des bloß charismatischen Bewältigens. Nicht bloß in seiner ebenso virilen wie zärtlichen Stimme, sondern in jeder Faser seines Körpers scheint er die Erschütterung angesichts des Todes von Eurydike, die Verzweiflung angesichts seines gescheiterten Rettungsversuches zu erleben – und löst damit auf seine Weise die Vorstellung ein, die Monteverdi von einem Sängerdarsteller und vom „parlar cantando“ gehabt haben mag. Das tun freilich auch die Übrigen: Die bildschöne, hinreißend natürliche Nuria Rial als Euridice und Musica, der klarstimmige Topi Lehtipuu (Apollo), der bedrohliche Caronte von Paolo Bttaglia, und, und, und.

Es fällt nicht schwer zu prophezeien, dass diese Produktion auch in Berlin heiß geliebt werden wird. Am besten, man besorgt sich die Karten so bald wie möglich.

„L’Orfeo“ ist in Innsbruck nochmals am 17. und 19. August zu sehen und an der Berliner Lindenoper dann am 17., 19., 21., 23., 25., 27. und 29. Januar 2004.

Jörg Königsdorf

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