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Kultur: Die Paläste und die Gassen des Lebens

Entdeckung eines Juwels: Genua präsentiert sich als Kulturhauptstadt Europas mit Einblicken in Hochkunst und Alltagskultur

Das Gold der Neuen Zeit wurde in Amerika geboren, in Spanien ist es gestorben und in Genua begraben. So fasst ein Bonmot die Geschichte der „Kulturhauptstadt Europas 2004“ in wenige Worte. Aber das Grab am Meer war tief, und erst seit einigen Jahren hat sich dieser große Friedhof Genua, schon abgesunken in Armut, Ödnis, Verkommenheit, wieder mit alten und neuen Geistern belebt. Selbst im kulturhistorisch überreichen Italien bietet die Stadt auf einmal Kostbarkeiten, ja sogar: Einzigartiges.

Einzigartig war für den nicht in jedes urlokale Spezifikum eingeweihten Besucher bisher nur die schiere Lage der ligurischen Metropole: Wie eine steinerne Arena wächst Genua an den steilen Ausläufern des Apennin aus dem Meer, und die Bühne dieses einst marmornen und bald von Stahl und Beton durchzogenen Stadt-Theaters bildet mittendrin das riesige, durch Felsformationen auch als natürliches Becken geschützte Hafenrund. Doch schon diese erste, selbstverständlichste Attraktion blieb den Blicken lange entzogen – weil graue Wälle vor den Docks und Kais die Stadt von ihrem maritimen Leben trennten. Bis Renzo Piano, der Genueser Architektengenius, vor mehr als einem Jahrzehnt die Mauern einriss und seiner Heimatstadt zumindest den alten Hafen entrümpelte, neu gestaltete, wiederschenkte. Das geschah zur „Columbiade“ 1992, als Genua nach 500 Jahren noch einmal die Entdeckung Amerikas durch seinen berühmtesten Stadtbürger feierte.

Zwar schneidet auch heute noch immer ein vierspuriger, auf rostige, abblätternde Stelzen gebauter Highway, die „Sopraelavata“, zwischen Hafen und Häusern durchs Stadtbild; auch wurde die Columbusfeier in jenem Olympia-Jahr der mittelmeerischen Konkurrenzmetropole Barcelona ein touristischer Flop, und das von Renzo Piano zum neuen „Porto antico“ erklärte Areal aus meernaher Shopping-Mall, Pizzerien, einer Stahlzeltskulptur und einer begehbaren gläsernen Biotopkugel leuchtet erst bei nächtlicher Illumination atmosphärisch halbwegs ein. Doch die erneute Öffnung zum Meer war ein Symbol – und das benachbarte Aquarium, von Piano äußerlich einem gigantischen, abweisend wirkenden Schiffscontainer nachempfunden, ist als größter Meereszoo Europas mit jährlich 1,3 Millionen Besuchern zu einem Magnet geworden; seine Anziehung wird jetzt in Italien nur noch von den Vatikanischen Sammlungen, von Pompeji oder den Florentiner Uffizien übertroffen.

Ein Symbol des Aufbruchs – nachdem Genua, noch in den 50er Jahren der bedeutendste Mittelmeerhafen, durch den transatlantischen Flugverkehr, durch die Konkurrenz der billigeren asiatischen Werften und den Niedergang der europäischen Stahlindustrien in eine tiefgreifende ökonomische (und soziale) Krise geraten war. Ähnlich wie Marseille oder die deutschen Hansestädte seit den 70er Jahren.

Nicht zuletzt den Strukturwandel der gesamten Seefahrt wird auch das kurz vor der Vollendung stehende neue Schiffahrtsmuseum „Galata“ dokumentieren. Dessen lichte, elegante Konstruktion hat der spanische Architekt Guillermo Vazquez Consuegra entworfen, mit dem Genua allerdings in einen Rechtsstreit geriet, seit letzten Herbst ein Flügel des Neubaus einstürzte, einen Arbeiter erschlug und die Eröffnung des offenbar hochattraktiven Museums ausgerechnet in diesem Kulturhauptstadt-Jahr in den eher zum Badetourismus oder zur eigener Seefahrt ladenden Sommer verschoben werden musste.

Ohnehin tut sich Genua noch schwer, für ausländische Reisende nicht nur als Ausgangspunkt für Mittelmeer-Kreuzfahrten (die dem Hafen einen neuen Boom bescheren) oder Umfahrungsort für die von Portofino bis San Remo bekannten Urlaubsziele der ligurischen Riviera wahrgenommen zu werden. Selbst jetzt sieht man nicht nur in den Altstadtgassen, sondern auch an den Glanzpunkten der – mit dem französischen Lille geteilten – Kulturhauptstadtherrschaft viele italienische, doch kaum internationale Touristen. Nach Florenz 1986 und Bologna 2000 ist Genua überhaupt erst der dritte Ort Italiens im europäischen „Kulturhauptstadt“-Programm. Und so fernab amerikanisch-japanisch-französisch-deutscher Besuchergruppen lassen sich Kunstschätze und Alltagsleben einer italienischen Metropole sonst kaum mehr erleben.

Noch bis zum 11. Juli ist im Palazzo Duccale die große Schau über „Die Ära Rubens“ und die Folgen eines längeren Arbeitsaufenthaltes des mit fast industrieller Fülle und Perfektion produzierenden Flamen in Genua Anfang des 17. Jahrhunderts zu sehen (vgl. Tsp. vom 2. März). Rubens, dessen europäisches Werkstattnetzwerk auch in Lille dieses Jahr gewürdigt wird (Tsp. vom 17. Mai), bildete gleichsam Vorhut und Kopf für die im Barock international ausgreifende Sammler- und Auftragstätigkeit der Genueser Handelsherren und Patrizierfamilien. In Räumen, die jeweils einer der Sammlerdynastien gewidmet sind und in denen die längst in alle Weltmuseen verstreuten Kollektionen der Dorias, Balbis, Grimaldis, Brignoles oder Pallavicinis noch einmal für Wochen mit ausgewählten Meisterwerken vereint sind, bilden Rubens, Dürer, van Dyck, Caravaggio, Veronese und Tizian einen kleinen großen Kanon der alten Weltmalerei: neben religiösen Motiven mit starkem Akzent auf die Portraits der Auftraggeber und ihrer Familien.

Obwohl eher Wirtschaftsmagnaten, ließen sich diese am liebsten in fürstlichen Herrscherposen abbilden. Das hat etwas von einem imaginativen Nach- und Traumspiel, weil die einst von der Krim bis nach Nordafrika reichende politisch-wirtschaftliche Macht der Genueser im Zeitalter von Rubens & Co. längst an Venedig, die Türken, Franzosen und Spanier verloren war. Trotzdem spielte man mit im europäischen, internationalen Konzert – weil Genuas Granden ihr Geschick inzwischen weniger als Admiräle oder Reeder denn als Bankiers und Finanziers beispielsweise der spanischen Überseepolitik bewiesen. Darum ist bei ihnen auch Amerikas Gold begraben.

Wie dieses Gold freilich in die Fundamente einer damals neuen, neureichen Metropole floss, ist nun auf erstaunliche Weise zu sehen. Schon für den Genueser G-8-Gipfel 2001 – der politisch und polizeilich zum ersten internationalen Desaster Berlusconis geriet – waren die Paläste der heutigen Via Garibaldi am Rande der Altstadt restauriert und die Straße zur autofreien Flaniermeile erklärt worden. Doch jetzt ist jene „Strada Nuova“, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts anstelle eines lumpenproletarischen Bordellviertels entstand und an der sich auf etwa 500 Meter Länge alle die genannten Patrizierfamilien ihre miteinander in barocker Pracht wetteifernden Palazzi errichteten, im entspannten Zickzackspaziergang nicht bloß als wechselnde Kulisse und Außenansicht zu erleben. Einzigartig in Italien und Europa: Die Paläste sind nun bis 5. September dem Publikum zugänglich – anlässlich einer Schau, die sich nicht auf die Ausstellung von Architekturzeichnungen und Dokumentationen der in Genua seit dem späten 16. Jahrhundert auch als Herbergen auswärtiger Staatsgäste dienenden Patrizierhäuser beschränkt („L’ invenzione dei rolli“, Palazzo Tursi).

Also öffnen sich in der Strada Nuova nicht allein die öffentlichen Gebäude – wie der bereits zum Rathaus gewordene mächtige Palazzo Grimaldi Doria Tursi oder die endlich auch innen restaurierte eigentliche Grimaldi-Wohnstatt des Palazzo Bianco. Er enthielt schon früher, ähnlich wie sein farbliches Gegenstück, der Palazzo Rosso, eine der Genueser Sammlungen, und aus seiner jahrelang geschlossenen Galleria wurde im letzten Herbst in der Berliner Gemäldegalerie bereits ein halbes Hundert wichtigerer Bilder gleichsam als Vorgeschmack auf das Kulturhauptstadtjahr gezeigt.

Allerdings sah man damals auch schon, dass von den Gastmalern à la Rubens abgesehen die lokalen Genueser Künstler mit dem Rang der Malschulen von Venedig oder Florenz nicht mithalten können. Es sind hier eher die ligurischen Steinmetze und Bildhauer wie Andrea Sansovino die in den Kirchen oder Palästen ihren besonderen Akzent setzen. Oder es ist der Zusammenklang von Architektur und Genueser Leben. Ahnbar wird das, wenn man in der schon von Rubens als Europas Prachtstraße 1622 in einem Skizzenkompendium verewigten Strada Nuova nunmehr in die Treppenhäuser, die ausgemalten Säle und Spiegelkabinette, in die Innenhöfe oder in die bisher verborgenen, sich an den Hügeln wie hängende Gärten emporschwingenden Parks der Paläste blickt.

Aber auch die vor Jahren noch verfallende, zur Drogenszene verkommene tausendgassige Altstadt wird für fast 200 Europa-Millionen inzwischen Haus für Haus gerettet, restauriert und wundersamerweise für ihre alten Bewohner und Traditionen bewahrt. Hier scheint Italien, in der Enge der Hänge, noch fast frei von boutiquenseliger, fastfoodfader Globalisierung, frei auch von Supermärkten. Das gibt es kaum sonst mehr zu erleben zwischen Lissabon, Neapel und Istanbul: ein so unverbildetes Stück mediterraner Alltagskulturhauptstadt.

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