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Was machen wir heute?: Die Platte verstehen

Wie ein Ost-Berliner die Stadt erleben kann - mit einem Buch über Plattenbau.

Während das Fernsehen von „Schneechaos“ spricht, fühle ich mich wie in meiner Kindheit, als wir in Berlin-Buch jedes Jahr wochenlang rodeln konnten. Selbst der Katastrophenwinter 78/79 hatte seine Vorteile: der Chef meiner Mutter kam nicht von der Ostsee zurück, und sie hatte mehr Zeit, ihr Jahressoll abzuliefern, an dem sie über die Feiertage immer fieberhaft arbeitete. Ab und zu gingen die Lichter aus und man holte die Kerzen hervor. Walter Kempowski hat einmal angeregt, Gottesdienste durch Stromausfall zu ersetzen, einmal die Woche im Dunkeln sitzen würde die Seele wirksamer erhöhen als der Gang in die Kirche.

Der Schnee auf meiner Balkonkante wächst immer höher, mein Urvertrauen in den Staat ist aber ungebrochen. An unserer Bucher Zentralheizung habe ich auch nie gezweifelt, ohne zu ahnen, welchen Anstrengungen man die Wärme zu verdanken hatte. Heute gelten Plattenbauten als Emblem des gescheiterten Sozialismus, dabei gibt es sie auch in Sydney, Florenz und West-Berlin. Im Buch „Wohnen für alle“ wird mit viel Bildmaterial die Geschichte des Plattenbaus erzählt, die weit vor dem Zweiten Weltkrieg begann. In der DDR war Wohnungsbau reine Politik, die Gestaltung von Wohnungen und Vierteln sollte die Menschen zum Sozialismus erziehen. Die Baustelle war ein mythischer Ort, wie das Amselfeld für die Serben. Die DEFA hat das Genre des Baustellenfilms immer wieder variiert, von „Spur der Steine“ bis „Die Architekten“. Die gesellschaftlichen und menschlichen Konflikte spitzten sich auf der Baustelle zu, schon der Bauarbeiter war eine Art Cowboy, den man brauchte, aber nie ganz beherrschen konnte.

Vielleicht muss man die Erfahrung, wie der normierten Wohnumwelt Individualität abgerungen werden konnte, selbst gemacht haben, um über Plattenbauten nicht oberflächlich zu urteilen. Ob in Berlin-Buch oder im Märkischen Viertel. Jochen Schmidt

Robert Liebscher: Wohnen für alle – eine Kulturgeschichte des Plattenbaus, Vergangenheitsverlag, 175 Seiten, 12,90 Euro.

Jochen Schmidt

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