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Kultur: Die Platten, die die Welt bedeuten

Große Liebe oder was? Nicolas Stemann sampelt am Deutschen Theater Berlin Heinrich von Kleists „Käthchen von Heilbronn“

Das Misstrauen gegenüber den Klassikern ist groß – und fast noch größer ist die Sehnsucht nach ihnen. Das Paradox kann man im Theater mit Händen greifen. Es ist der Normalzustand.

Glaubt man denn zum Beispiel noch an Kleist, an seine Idee von der absoluten, reinen, unausweichlichen Liebe? Im Jahre 1808 widmete der preußische Feuerkopf dieser fixen Idee ein gewaltiges Dramen-Doppel: Die „Penthesilea“ kulminiert in der kannibalischen Tötungsorgie des griechischen Superhelden Achill durch die Amazonenkönigin. Auch im „Käthchen von Heilbronn“ erscheint die Frau als treibende Kraft – hier jedoch zum offenbar gottgebenenen, paradiesischen Happy-End.

Ars longa, vita brevis: Heinrich von Kleists düstere Biografie strafte die Traumvorstellung vom rasenden Liebestod und/oder unendlicher Liebe aufs Hässlichste Lügen.1811, an einem grauen Novembertag, erschoss der erst 34-Jährige am Wannsee bei Berlin Henriette Vogel, eine Bekannte, die unheilbar krank und auch nicht das Mädchen seines Herzens war, und sich selbst.

Ja, glauben möchte man schon an den Stoff, aus dem das Theater ist – oder früher war? Am Deutschen Theater Berlin lässt sich nun wunderbar beobachten, wie schwer es fällt, einen so genannten Klassiker halbwegs ernst zu nehmen. Dies heftig gekürzte „Käthchen von Heilbronn“ liefert ein Schulbeispiel, wie man es macht, wenn man nicht so genau weiß, wie man es heute eigentlich machen soll. Denn irgendwie scheint die Aufführung Kleist und sein auch schon arg künstliches deutsches Mittelalter und seine wilde Liebessehnsucht erkunden zu wollen.

Regisseur Nicolas Stemann, Jahrgang ’68 und damit so alt oder so jung wie der unglückliche Kleist am Ende, formuliert ausführlichst die Komplikationen, die sich bei der Annäherung an ein Kleist’sches Drama ergeben. Als wär’s ihnen peinlich, mit all der Ritterromantik und Käthchens erschütternder Herzenstreue identifiziert zu werden, stehen die Schauspieler in Straßenklamotten (Kostüme: Esther Bialas) feixend an der Rampe und bitten das Publikum um „Vertrauen“. Verfremdung, so hieß das mal bei Brecht, dessen „Dreigroschenoper“ Stemann in der letzten Spielzeit in Hannover in sämtliche Einzelteile zerlegte. Hier wirkt die albern-distanzierte Haltung, diese gezwungene Lässigkeit („Wo sind wir hier eigentlich? Wie heißt meine Rolle gleich wieder?“) wie modischer Zynismus. Kennt man halt schon.

Im „Käthchen“ treibt Stemann die – mainstreamige – Dekonstruktion so weit, dass es manchmal richtig lustig ist. Mit einem Beamer werden Piktogramme, Pfeile, Strichmännchen, ein Kleist-Storyboard, auf die Rückwand der leeren Bühne (von Katrin Hoffmann) geworfen, endlich findet man sich in dem Ritterburgen- und Schlossherrn-Durcheinander zurecht. Und beim Femegericht wird das bockige Käthchen, logisch, mit einer Kamera gequält.

Das Problem ist nicht, dass Stemann gern mit Video spielt. Das Problem ist vielmehr, dass es viele Regisseure auch machen und manche – Castorf zum Beispiel – dem Theater damit einen radikalen Realitätsschub verpassen. Bei Stemann bleibt es: Spielerei. Bei Stemann hat man den Verdacht, dass er denkt, ein zeitgenössischer Kleist müsse eben so aussehen. Muss mit „Nights in white satin“ von den Moody Blues versüßt werden. Stemann nimmt gern auch mal die Bühne auseinander. Da krachen Scheinwerfer aus dem Schnürboden herunter, und die Bretter, die einst die Welt bedeuteten, splittern. Schön, schön: Der kann die große Theatermaschinerie bedienen. Der hat Einfälle. Wenn die Drehbühne zum Plattenteller wird und sich die Schauspieler dagegenstemmen und John Lennons „Imagine“ abwürgen, anschieben, scratchen; wie eine Single, die mit 33er-Geschwindigkeit läuft. Der Rheingraf vom Stein (Michael Schweighöfer) schwäbelt, dass es kracht, und die Gräfin Helena (Christine Schorn) hat so einen Hausfrauenvernüftigkeitston drauf, dass der letzte Träumer aus seinem Rausch erwacht. Nichts als Ironie. Wir bleiben erstmal cool und zugeschnürt und schauen, wie die Sache weiterläuft. Ob Kleist, der alte Punk, uns vielleicht doch noch was zu sagen hat.

Doch, Stemanns diskursives Theater hat Charme. Es ist, als sähe man bei Proben für eine Kleist-Aufführung zu, die nicht fertig ist und gar nie fertig werden will. Weil diese Sache mit der großen, großen Liebe zwar geschrieben steht, aber wir wollen uns ja nicht lächerlich machen. Doch, ja: Inka Friedrichs Käthchen zeigt sich unbeirrt, sie lässt nicht ab von ihrer verrückten Leidenschaft für den Grafen vom Strahl. Kann aber auch sein, dass die Kleine in der Trotzphase steckt, dass sie nur heraus will aus Papas enger Waffenschmiede. Der gute Horst Lebinsky bringt den allein erziehenden Brautvater liebenswert zerstreut, und das kann man auch vom Wetter-Grafen Friedrich sagen. Frank Seppeler weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Er geht schon mal mit der schicken Kunigunde (Aylin Esener) ins Bett, hat also Sex vor der heiligen Ehe, die bei Kleist nun wirklich im Himmel gestiftet wird, und auch noch mit einem anderen Mädchen.

Nun sind fast schon anderthalb Stunden um, und noch immer läuft die Chose mit ironischen Nummern aus Film und Fernsehen. Plötzlich passiert etwas Ungeheuerliches: Ein Choral erklingt! „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie Dich behüten auf allen Deinen Wegen.“ Ein Psalm, Mendelssohn-Bartholdy. Ein Sänger nach dem anderen setzt ein, erhebt sich im Parkett, auf dem Rang. Der Choral schwillt an. Ein magischer Moment. Die Sänger saßen all die Zeit zwischen den Zuschauern. Jetzt schmettern sie inbrünstig alle Zweifel weg. Wer da keine Gänsehaut, keine feuchten Augen bekommt, ist aus Holz.

Ein Alain Platel, der um die Macht der Musik weiß und die absonderlichsten (Gegen-)Mittel erfindet, um diese Macht zu entfalten, würde da die Trickkiste zumachen – und zuhören. Doch Stemann hält die Erhabenheit nicht aus. Kunigunde, das Girlie, zickt: „Der Cherubim ist auch nur ein Konzertchor aus Berlin.“ Ein Schlag ins Gesicht – und dann quillt Orgelmusik. Ein Riesenlautsprecher schwebt herab, das ist der Kaiser, der deus ex machina, der das Käthchen als seine Tochter anerkennt, auf dass der Graf sie heiraten kann, Amen. Da hat man genau den Kitsch, gegen den das Ensemble den ganzen Abend angestunken hat. Oder ist der sakrale Schluss jetzt der Gipfel der Ironie?

Nicolas Stemann hat, wie so viele von uns, das Problem, dass er zu clever und zu brav ist für das Pathos, für das Zerstörerische der Liebe. Viel Dramaturgie, aber kein Drama. Viel Rauch, aber kein Feuer. Mal zu heiß, mal zu cool: Stemann schüttet das „Käthchen“ mit dem Wechselbad aus. Scheibenkleister!

Nächste Vorstellungen: 3. und 11. Oktober

Rüdiger Schaper

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