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Kultur: Die Politiker bellen, das Volk schweigt

Wahlmarathon in Polen: Was die Intellektuellen über die Zukunft ihres Landes denken

Das Wahltheater, das Polen seit Wochen in Atem hält, lässt auch Künstler und Schriftsteller nicht kalt. Doch warum entlud sich das Protestpotenzial bei den Parlamentswahlen zum polnischen Sejm nicht vor 14 Tagen an den Urnen? Warum blieben 60 Prozent der Wähler zu Hause? Gerade Jüngere und Gebildetere zeigen sich angewidert von marktschreierischen Wahlkampfparolen und politischem Geklüngel und enthielten sich der Stimme. Der 33-jährige Romancier Mariusz Sieniewicz („Jüdinnen werden nicht bedient“, erschienen im Verlag W.A.B.) nennt es „Abstimmung durch Abwesenheit“.

Dabei hätte es durchaus linke Alternativen gegeben zu den durch Korruptionsskandale unwählbar gewordenen Postkommunisten (SLD) und zum Erstarken der nationalkonservativen Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS). Doch die sozialdemokratische Neugründung von Marek Borowski und auch die Grünen sind in den Sog des Politikverdrusses geraten und an der Fünfprozenthürde gescheitert.

Am Sonntag galt es nun, aus zwölf Kandidaten den Nachfolger des aus dem Amt scheidenden Präsidenten Kwasniewski zu wählen. Der liberale Kandidat Donald Tusk lag mit 36,3 Prozent der Stimmen in Führung vor dem nationalkonservativen Lech Kaczynski (33,1 Prozent), erreichte aber nicht die notwendigen 50 Prozent. Deshalb gehen beide Amtsanwärter in zwei Wochen in die Stichwahl.

Manche, wie Pawel Dunin-Wasowicz, Verleger der 23-jährigen Starautorin Dorota Maslowska („Schneeweiß und Russenrot“), sprechen zwar von einem normalen Wechsel. Und polnische Unternehmer sehen die künftige liberal-konservative Regierung ohnehin nicht als Problem. Dennoch sind bei vielen Intellektuellen die Befürchtungen nicht zu überhören.

Gegen die schwarze Sittenmoral der PiS wettern etwa schwule Autoren wie Michal Witkowski (sein Roman „Lubiewo“ erscheint nächstes Jahr bei Suhrkamp) oder Feministinnen wie Kinga Dunin. Denn Lech Kaczynski brüstet sich damit, dass er als Oberbürgermeister von Warschau die Regenbogenparade verboten und Bordelle geschlossen hat. Sein Konkurrent Donald Tusk wagt es aber ebenso wenig, sich für die Legalisierung der Homo-Ehe auszusprechen. Die Homophobie der Polen, die schon Witold Gombrowicz zu spüren bekam, ist noch immer ausgeprägt.

Aber das sind vor allem atmosphärische Störungen. Im Grunde wird die Vielfalt der Medienkultur stärker durch globale Marktzwänge bedroht als durch alles, was an sittenpolizeilichen Eingriffen zu gewärtigen wäre. Die Schriftstellerin Olga Tokarczuk, die die PiS für eine fremdenfeindliche Partei hält und für die nächsten vier Jahre Schlimmstes befürchtet, beklagt zu Recht das sinkende Niveau der Zeitungen. Doch die Ursache dafür sind nicht staatliche Eingriffe, sondern die Verlagspolitik. Es sind die Auflagenzahlen und somit der Massengeschmack, denen auch eine Zeitung wie die „Gazeta Wyborcza“, nicht zuletzt im Konkurrenzkampf mit Axel Springers polnischem Produkt „Fakt“, Zugeständnisse macht.

„Politiker bellen, die Wirtschaft zieht weiter“, sagt Marcin Mroszczak, Chef einer international tätigen Werbeagentur in Warschau. Die liberale Bürgerplattform (PO) wird ihre Pläne für Steuersenkung und Bürokratieabbau in der Koalition mit den Nationalkonservativen jedenfalls nicht durchsetzen können.

Rechts an der PiS unter Vorsitz von Jaroslaw Kaczynski, dessen Zwillingsbruder Lech nun Präsident werden will, sind im Übrigen nur die nationale Rhetorik, der Ruf nach dem Staat und die Ablehnung alternativer Lebensweisen. Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen dagegen würden der PDS alle Ehre machen: Die Partei propagiert den Fürsorgestaat und Einmischung in die Wirtschaft. Wie die sozialen Wohltaten bei gleichzeitiger Senkung der Steuern finanziert werden sollen, bleibt ein Geheimnis.

Bei vielen Autoren geht die Politikabstinenz mit einem klaren Blick auf die soziale Wirklichkeit einher. Slawomir Shuty geißelt in seinem Roman „Die Halde“ (W.A.B.) die Vereinsamung der Angestellten einer Großbank. Dorota Maslowska zeichnet in ihrem neuen Buch „Die Reiherkönigin“ ein grelles Bild vom Schicksal der Arbeitslosen und Gescheiterten im Warschauer Dschungel-Kapitalismus. Aber daraus folgen keine politischen Maximen. Oder soll man es als Politik bezeichnen, wenn Shuty gegen die „Weltherrschaft des Satans“ wettert und seinen Büchern rotweiße Schlipse beilegt, um so mit Andrzej Leppers Samoobrona-Partei zu kokettieren?

Offenbar entzieht sich die Zerklüftung der Weltanschauungen längst dem Links- Rechts-Raster. Aus der Scheu vor Heilsrezepten spricht Verunsicherung. Einige Autoren gestehen, dass sie den Wahlsieg der Kaczynski-Partei als Chance eines Widerstands gegen den „Neoliberalismus“ und die „Atomisierung“ der Gesellschaft sehen. PiS wäre somit ein Auffangbecken für die Globalisierungsgegner, das die SLD-Regierung nicht bieten konnte, weil sie sich selbst die Gebote von Haushalts- und Währungsstabilität zu Eigen (und privat dabei beste Geschäfte) machte. Die subjektiv empfundene Kälte des globalen Kapitalismus treibt manche an die Herdwärme von Solidarität versprechenden Parteien, die nach anderen Maßstäben als rechts gelten müssten.

Wie so oft zeigt sich auch hier: Politik ist eine Frage des Charakters. Weniger autoritäts- und sicherheitsbedürftigen Gemütern ist weniger kalt in der Freiheit. So hält zum Beispiel Andrzej Stasiuk, der für seine Reportagen „Unterwegs nach Babadag“ (Suhrkamp) gerade den NIKE, Polens wichtigsten Literaturpreis, erhalten hat, Donald Tusk für einen wählbaren Kandidaten, der sich wohltuend vom „vulgären, aggressiven und arroganten Antlitz“ der jüngsten Politik abhebt. Für Stasiuk wäre sogar ein Präsident Kaczynski akzeptabel, allerdings nur „in Kriegszeiten“. Sein Glaube an die eigene Unfehlbarkeit mache ihn wenig geeignet zur Lösung außenpolitischer Probleme.

Ein solches Problem ist das über die Köpfe Polens und des Baltikums geschlossene deutsch-russische Abkommen zum Bau der Ostsee-Gaspipeline. Dieser Coup hat das alte polnische Trauma vom „Eingeklemmtsein“ (Tusk) zwischen Russland und Deutschland wieder schmerzen lassen. Tatsache ist zwar, dass die SLD-Regierung früher hätte aufwachen können, als das Projekt noch in den europäischen Gremien lag. Jedenfalls will Kaczynski die Pipeline verhindern. Tusk will ähnliche Probleme künftig durch eine geschlossene europäische Außenpolitik vermeiden. Dieser Weg scheint aussichtsreicher, als, wie Kaczynski, allein auf den Einfluss der USA zu setzen. Den Beschluss zur Stationierung polnischer Truppen im Irak stellt keiner der beiden in Frage.

Der zweite Wahlgang am 23. Oktober wird den endgültigen Ausschlag für die künftige politische Richtung geben. Der Präsident kann konkret in die praktische Regierungsarbeit eingreifen. Aber Panikmache ist nicht angesagt. Lech Kaczynski, kämpferisch wie eine Bulldogge, mag manchmal übers Ziel hinausschießen. Sein früherer Arbeitgeber Lech Walesa hat sich einmal über die Kaczynski-Zwillinge lustig gemacht: Kämpfen könnten sie, arbeiten nicht. Kaczynskis persönliche Integrität ist unbestritten, er hat in den Anfangsjahren der Solidarnosc seine Zivilcourage unter Beweis gestellt. Auch der Vorwurf des Antisemitismus ist unbegründet. Ein Präsident Tusk aber wäre ein Glücksfall – für Polen und ganz Europa.

Der Autor, dieses Jahr mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet, lebt als Kritiker und literarischer Übersetzer in Berlin.

Olaf Kühl

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