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Kultur: Die Schlachten an der Croisette

Das turbulente 56. Filmfestival von Cannes endet mit dem Triumph eines Außenseiters: Gus van Sants „Elephant“

Zuerst die gute Nachricht: Die Goldene Palme von Cannes ist nicht an den haushohen Favoriten Lars von Trier und seinen ästhetisch und inhaltlich perfekt gebauten, aber, geben wir’s zu, irgendwie ärmlich geratenen Dreistunden-Theaterkunstfilm „Dogville“ gegangen. Und jetzt die schlechte Nachricht: Die neunköpfige Jury unter Patrice Chéreau vergab die höchste Trophäe der Filmkunst an Gus van Sants „Elephant“, einen Film, in dem ein Dutzend Schüler einen Vormittag an einer Highschool nachstellen, der an die Umstände des Massakers an zwölf Schülern und einem Lehrer an der Highschool in Columbine/Colorado 1999 erinnert. Das Werk, siedelnd zwischen Fake-Dokument und erfundenem Cinema vérite, fügt dem, was wir über dieses und ähnliche Ereignisse wissen, nichts hinzu – und bleibt meilenweit hinter Michael Moores Dokumentarfilm „Bowling for Columbine“ zurück, der letztes Jahr in Cannes präsentiert worden war. Und nun die – fiktiv – beste Nachricht: Am Ende dieses durch und durch verkorksten Festivals ist ausnahmsweise gar kein Film mit einer Goldenen Palme belohnt worden. Aber sowas gehört sich ja nicht.

„Elephant“, produziert von dem US-Fernsehriesen HBO, ist – und das dürfte die Jury vor allem überzeugt haben – zumindest ein achtenswerter Versuch, den Schock, der mit solchen Schulattentaten verbunden ist, auf ästhetisch ungewöhnliche Weise zu reinszenieren. Zwei Stunden lang folgt die Kamera, aus wechselnder Perspektive, den Schülern durch schier unendliche Flure und beobachtet ihr alltägliches socialising zwischen den Kursen, während sich zwei von ihnen unbemerkt fit für den Angriff machen. Ihre Vorbereitung besteht allerdings nur flink darin, ein Ego-Shooter-Videospiel anzuspielen, sich ein paar Takte einer Hitler-Dokumentation im Fernsehen anzuschauen, ein bisschen Beethoven („Für Elise“ und die „Mondscheinsonate“) am Klavier zu traktieren und im übrigen zuzuwarten, bis der Paketdienst mit den Maschinenpistolen kommt. Motivationsarbeit im Zeitraffer, das genügte van Sant offenbar, der Rest gehört der Schießerei. Auch aus den Einlassungen des Regisseurs während des Festivals war nicht wesentlich mehr als der routinierte Rückblick auf eine Auftragsarbeit herauszulesen.

Immerhin hat Cannes damit zum Finale ein wichtiges Thema aufs Podest gehoben, und das war zwölf Tage zuvor alles andere als selbstverständlich. Gegen Ende eines äußerst schwachen Wettbewerbs waren Frust, Gehässigkeiten und Tumulte kaum mehr zu bändigen gewesen. Wo man sonst gern die Ovationen nach Minuten zählt, in den beiden Großkinos Lumière und Debussy, erhob sich einhellig lautstarkes Buhgeheul – etwa nach der Pressevorführung von Bertrand Bliers Wettbewerbsbeitrag „Les côtelettes“, der die schleimige Phantasie zweier alter Männer preist, sich in jeder Hinsicht eine algerische Putzfrau zu teilen; oder man schlich wortlos auseinander wie nach Peter Greenaways „The Tulse Luper Suitcases“, dem ersten Beitrag einer angedrohten Trilogie über das Filmen nach der Ära des Kinos: Darin geht es um die lärmend aus lauter übereinander gelegten Bildern bis zum Überdruss visuell vervielfachte Jugend eines armen britischen Würstchens in Utah und Antwerpen, zu deren nennenswertesten Eindrücken die allerseits ständig herunterzulassenden Hosen gehören. Ach, Cannes, weltführendstes Filmkunstfestival aller Zeiten!

Unterdessen schrieben sich die US-Branchenblätter, allen voran „Variety“, in einen Schmährausch gegen die französische Filmpolitik im Allgemeinen und die Festivalleitung im Besonderen. Erster Vorwurf: zu viele französische Beteiligungen in den Wettbewerbsbeiträgen (Filz!). Zweiter Vorwurf: Chancenlosigkeit von Filmeinreichungen ohne bereits vorhandenen französischen Verleiher (Zensur!). Drittens: Das Festival mache mit den führenden nationalen Medien gemeinsame Sache (Korruption!). In diesem Furor ließen sie sich kaum bremsen – da mochte das Festival noch so sehr darauf hinweisen, dass in 30 Jahren kaum je eine Goldene Palme an Frankreich gegangen sei; da mochten sich Produzenten angesichts des teuren Cannes-Auftritts über die zumindest teilweise Kostenübernahme von Verleihern noch so sehr freuen; und dass „Libération“ postwendend zurückschoss – „zu viel der Ehre, diese Paranoia!“ – das dürfte die Sehnsucht der Amerikaner nach Old Europe auch nicht gerade beflügelt haben.

Ja, so ziemlich alles ging schief, dieses Jahr, von Anfang an. Und am Ende erinnerte man sich mit neu entbrennender Schärfe daran, dass Festivalpräsident Gilles Jacob dem unsäglich altmodischen Mantel-und-Degen-Eröffnungsfilm „Fanfan la Tulipe“ den zweiten Teil einer selbst gedrehten Trilogie namens „Les marches“ vorangestellt hatte – eine ziemlich uninspirierte und lieblose Kompilation von Archivszenen der roten Teppichtreppenstufen, die für zwölf Tage im Mai doch bitteschön die Welt bedeuten. Was für ein missratener French Fanfan – soll nun ebenso eitel (und ebenso mäßig talentiert) auch nächstes Jahr wieder das Festival aller Festivals beginnen?

Vielleicht ist es das: Mit jedem Tag, den das Ereignis seine künstlerische Ereignislosigkeit von neuen unter Beweis stellte, wuchs in Cannes so etwas wie das Moritz-de-Hadeln-Syndrom – der Überdruss an Festivalstrukturen, die mit einem Namen untrennbar verbunden scheinen. Der Ex-Berlinale-Chef dürfte zwar, in seinem zweiten Jahr als Festivalchef von Venedig, die prächtige Ernte der für Cannes nicht fertig gewordenen Filme – von Angelopoulos über Bertolucci, Wong Kar-wai bis Tarantino – einfahren; Gilles Jacob, eine Institution in ihrem 25. Jahr, steht dagegen für Stagnation.

Vor drei Jahren wurde Jacob gewissermaßen vom Kanzler unter stillschweigender Mitnahme aller Exekutivprivilegien zum Bundespräsidenten befördert. Seitdem leistet sich der mittlerweile 72-Jährige mit Thierry Frémeaux einen Künstlerischen Direktor, der keine Gelegenheit auslässt, fast servil seinen „großen Lehrer“ zu loben. Wo bleibt da die Autonomie des für die Programmierung verantwortlichen Mittvierzigers, wo bleibt der Generationswechsel, woher kommen die neuen Impulse?

Immerhin, für den Einzelfilmskandal, wenn auch wohl eher für den beschränkt gewollten, ist Frémeaux offenbar gut. Letztes Jahr ging Gaspar Noes umstrittener „Irréversible“ auf sein Konto, ein formal ehrgeiziges Stück Sex-und-Gewalt-Kino mit einer extrem langen Vergewaltigungsszene in einem Fußgängertunnel; diesmal brachte Vincent Gallos ereignisloses, dann aber in einer Blowjobszene gipfelndes Egotrip-Roadmovie „The Brown Bunny“ (die Pressevorführung glich einem zynischen Happening) fast jeden auf die Palme – mit konfusesten Folgen: Erst verteidigte Gallo seinen Film tapfer auf der Pressekonferenz, dann meldete „Screen“ eine Art Selbstanklage des Regisseurs – „Der Film ist ein Desaster, und ich entschudige mich bei jedem, der damit seine Zeit verschwendet hat“ –, und tags darauf brachte „Libération“ ein ganzseitiges trotziges Gallo-Interview mit dem kühlen Hinweis, „Screen“ habe eine Desinformationskampagne lostreten wollen.

Sind solche Dinge das, was man Ereignisse eines Festivals nennt? Ereignisse in Cannes: Das sollten große Filme sein, Filme, die diese siebente Kunst voranbringen, Filme, die unsere Wahrnehmungsraster erschüttern und zugleich einen Nerv treffen, der den Blick auf die große Welt da draußen und zugleich unser inneres Universum verändert. Dieses Festival ließ sie weitgehend vermissen. Aber die Kinos waren doch voll, schreibt die Branchenzeitschrift „le film francais“ in ihrer Festivalbilanz, und das Wetter war doch schön! Das immerhin hat bis zur Stunde noch niemand dementiert.

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