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Kultur: Die Schmerzzeitlose

Schwarze Idyllen: zum 70. Geburtstag der Dichterin Sarah Kirsch

Seit Peter Hacks in den späten Sechzigerjahren sein Entzücken am „Sarah-Sound“ bekundete, gibt es einen heimlichen Wettbewerb um das charmanteste Kompliment, das man der störrischen Naturdichterin zu Füßen legen kann. Marcel Reich-Ranicki erhob sie 1980 als „der Droste jüngere Schwester“ in den literarischen Adelsstand und befestigte ihren Status als Klassikerin zu Lebzeiten. Freilich sind die bekennenden „Sarah-Suchtkranken“, zu denen sich etwa Joachim Kaiser rechnet, mittlerweile nicht mehr so häufig anzutreffen. Schon melden sich erste leise Spötter, die sich der Landidyllenmalerei der „bedeutendsten deutschsprachigen Dichterin aus Tielenhemme“ („Lyrikdoktor“ Jakob Stephan) entziehen wollen.

Die ironischen Kritiker unterliegen dabei demselben Missverständnis wie die devoten Verehrer. Sarah Kirschs Gedichte kultivierten nämlich nie jenen „sanften“ und märchenhaften Unschuldsblick auf die Phänomene der Natur, den man ihr in Lesebüchern und Literaturgeschichten so gerne zugeschrieben hat. Wenn diese Dichterin Idyllen entwirft, dann sind es stets schwarze Idyllen, die an der zivilisatorischen Verwüstung des „Irrsterns“ Erde keinen Zweifel lassen.

Die am 16. April 1935 als Tochter eines Uhrenbauers in einem Dorf im Südharz geborene Ingrid Bernstein ließ sich von den Adalbert Stifter-Büchern in der Bibliothek ihres Elternhauses dazu verleiten, Biologie zu studieren. Von ihrer Mutter lernte sie alle Pflanzennamen, Grundlage für die spätere poetische Begeisterung an Naturstoffen. Die ersten dichterischen Versuche entstanden, nachdem sie den Lyriker Rainer Kirsch (den sie 1958 heiratete) und später, am Leipziger Literaturinstitut, die Poeten Karl Mickel und Helga Novak kennen gelernt hatte. Bereits ihr Debütband „Landaufenthalt“, den sie 1967 unter dem Namen Sarah Kirsch veröffentlichte, erregte das Missfallen der DDR-Kulturpolitiker. Denn unmissverständlich benennt hier ein Gedicht, das eine fantastische Zugreise des Ich durch „mein kleines wärmendes Land“ imaginiert, den „ritzenden Draht“, der die beiden deutschen Teilstaaten trennt.

Wenn bei Sarah Kirsch in naturmagischer Manier Jahreszeiten, Wetterphänomene oder vegetabilische Details aufgerufen werden, lauert fast immer ein Endzeitbote der Apokalypse, der die schönen Natur-Szenarien zum Einsturz bringt. Das Nebeneinander von scheinhafter Idylle und realer Naturzerstörung thematisiert etwa das berühmte Gedicht „Im Sommer“ aus dem Band „Rückenwind“ (1977). Hier ist vom „dünnbesiedelten“ Land die Rede, auf dem „trotz riesigen Feldern und Maschinen“ die Dörfer „schläfrig in Buchsbaumgärten“ liegen. Aber die bukolische Idylle will sich nicht einstellen – denn die industrielle Usurpation des ländlichen Raums ist schon weit fortgeschritten: „Noch fliegt die Graugans, spaziert der Storch/Durch unvergiftete Wiesen.../ Wenn man hier keine Zeitung hält / Ist die Welt in Ordnung.“

Im Erscheinungsjahr von „Rückenwind“ verließ die renitente Dichterin die DDR, ging nach West-Berlin und zog sich schließlich 1983 in ihr horizontweites Sehnsuchtsland, die nördliche Ebene zwischen Eider und Nordsee zurück. Von dort gelangten zuletzt im Jahr 2001 mit dem Band „Schwanenliebe“ lyrisch verknappte Botschaften an die Öffentlichkeit, karge Gedichte und Epigramme, in denen die Natur kein Refugium mehr ist, sondern Vorbote eines größeren Unglücks: „Heute abend gingen / Zwei Sonnen unter da trat/Die Verzweiflung/ Ans Ufer.“

Zu ihrem 70. Geburtstag hat man Sarah Kirsch mit einer leider nur auf den ersten Blick prachtvollen Ausgabe ihrer „Sämtlichen Gedichte“ beschenkt. Die Deutsche Verlags-Anstalt hat sich hier fast alle Ingredienzen einer Gesamtausgabe gespart. Auf editorische Anmerkungen wurde vollständig verzichtet; man erhält noch nicht einmal einen Hinweis auf das Erscheinungsjahr der einzelnen Gedichtbände. Wer ein Recycling-Unternehmen dieser Art nicht schätzt, sollte zu der sorgfältig edierten Sarah-Kirsch- Werkausgabe greifen, die bei dtv erhältlich ist. „Ich brauche ein bestimmtes Maß an Schönheit“, hat Sarah Kirsch einmal gesagt, „damit ich existieren kann“. Das gilt auch für den Umgang mit Werkausgaben.

Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. DVA, München 2005. 560 Seiten, 19,90 €.

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