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Kultur: Die Schnalle auf dem Bibel-Gürtel

Waco war der Sitz der Davidianer-Sekte, die 1993 in einem Blutbad unterging. Und heute? Besuch in einer Stadt, die sich für die religiöseste Amerikas hält

Der Wind streicht durch die Myrten. Es ist ein heißer Tag, und der Wind ist kräftig und trocken. Clyde Doyle wandert durch den mannshohen Hain, den sie angelegt haben als Gedenkstätte. 82 Myrten für 82 Tote. Granittafeln im staubigen Boden tragen ihre Namen, ihr Alter, den Todestag: 19. April 1993. John-Mark McBean, 27. Zilly Henry, 55. Margarida Vaega, 47. Die Sonne steht senkrecht. Nicole Little, 32, und Aisha Gyrfas Summers, 17, starben mit ihren ungeborenen Kindern. Melissa Morrison, 6, und Isaiha Martinez, 4, sind zwei von 18 Opfern, die unter zehn Jahre alt waren. Selten, dass ihre Angehörigen hierher kommen, sagt Doyle: „Die Leichen wurden beerdigt in einer ehemaligen Baugrube in der Innenstadt von Waco.“ Wo genau, weiß er nicht.

Es ist Samstag, kurz nach Mittag. Gleich wird Doyle, 64, gebürtiger Australier, eine Predigt halten für die letzten Jünger der Branch Davidian von Waco. Vor fünf Jahren hat er seinen Trailer aufgestellt neben der Hütte, die als Besucherzentrum dient, „um unser Andenken zu bewahren“. Hinter den Myrten eine weiße Hütte ohne Turm, die als Kapelle fungiert. Ringsum Brachland, Schilf, dürres Gebüsch. Verrostetes Blech ragt aus dem Boden, wo ein Schulbus vergraben wurde. Daneben ein weiterer Schulbus. Abgefackelt von Randalierern, erzählt Doyle. Eines Nachts seien betrunkene Jugendliche gekommen, die mit ihren Pick-Ups durch die Myrten pflügten, die Fenster der Kapelle einschlugen und grölten: „Burn, Baby, burn!“ Doyle: „Das nennt man wohl Cowboymentalität.“

„Freunde, ich offeriere euch meine Weisheit. … Euer einziger Erlöser ist meine Wahrheit. Meine Wahrheit sind die Sieben Siegel.“ So beginnt die erste der beiden letzten Botschaften, die David Koresh von Gott erhielt und zu Papier brachte. Koresh zeichnete die Briefe mit „Yaweh“ und „Yahweh“. Koresh wurde von den Branch Davidian, einer Sekte, die außerhalb von Waco, Texas, in einer hölzernen Festung namens Mount Carmel lebte, als Prophet verehrt. Als Beamte des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms (BATF) am 28. Februar 1993 einen Haftbefehl gegen Koresh vollstrecken wollten, fielen Schüsse. Vier Mitglieder des BATF und sechs Anhänger der Branch Davidian starben. 51 Tage wurde mit Koresh wegen einer Kapitulation verhandelt, dann rückten Panzer vor. Stunden später brannte Mount Carmel. Amerika verfolgte es live am Fernseher.

Die Aussagen, wer vor der Belagerung zuerst schoss, sind bis heute widersprüchlich. Fest steht, dass Mount Carmel vor dem flammenden Inferno einem Waffenarsenal glich. Koresh hatte alleine 1992 vollautomatische Gewehre, Munition, Granaten, Handfeuerwaffen, Zündschnüre und Schießpulver im Wert von 44 000 Dollar gekauft. Auf jeden Bewohner von Mount Carmel kamen drei Schusswaffen. Die „Waco Herald Tribune“ nannte Koresh einen „sündigen Messias“. Doyle: „Die Waffen waren als Wertanlage gedacht und dienten unserem Schutz.“ Schutz wovor? „Der Regierung, die Krieg führt gegen ihre Bürger, die Verfassung missachtet, Gesetze verletzt und lügt.“ Das Magazin „U.S. News & World Report“ schrieb zum zehnten Jahrestag der Tragödie: „Die Leute waren verärgert über die Regierung, und viele sind verärgert geblieben, das ist eine von Wacos Legenden.“

Waco liegt auf halber Strecke zwischen Dallas und Austin. Geschichtsträchtige Gegend. Während des Bürgerkriegs rekrutierten die Konföderierten hier 17 Kompanien, sieben ihrer Generäle kamen aus Waco. Später wurden entlang des Brazos River mehr Schwarze gelyncht als irgendwo sonst in den USA; der Ku-Klux-Klan hatte stets reichlich Zulauf. Im Herzen Texas’ wird damals wie heute verteidigt, was man für konservative Werte hält. Heute gilt Waco als religiöseste Stadt Amerikas. Die Schnalle auf dem Bibelgürtel, wie die Bewohner sagen. Wo sogar Christus ein Kreuzzeichen machen würde, käme er vorbei. Am Rande der Highways und Straßen überall Schilder. Jesus Saves. LIFE – A Wonderful Choice. Die örtliche Baylor University der Southern Baptist Convention gilt traditionell als ultrakonservative Bastion, die auf ihrer Website das „positive Image von Homosexualität“ in den Medien kritisiert.

Der Geist dieses Landstrichs, schreibt Michael Lind in seinem Buch „Made in Texas“, dieser Cocktail aus Intoleranz, christlichem Fanatismus und Gewalt, bestimme auch die Politik von George W. Bush. Eine Politik, so Lind, die „die Zukunft Amerikas und möglicherweise der ganzen Welt“ gefährde. Und es passt durchaus ins Bild, dass Bush, der sich als Born Again Christian bezeichnet, in der Nähe von Crawford, einem Kaff 15 Kilometer außerhalb von Waco, eine Ranch besitzt. Dort verschanzte er sich jüngst, als New Orleans von Hurricane Kathrina verwüstet wurde. Für die Mutter eines im Irak getöteten Soldaten, die seit Wochen vor seiner Ranch protestiert, zeigte er kein Mitgefühl. Derweil ging der Präsident mit dem siebenmaligen Gewinner der Tour de France, Lance Armstrong, radeln. Sympathien für die Branch Davidian? Ein absurder Gedanke. Die Bedienung der „Coffee Station“ in Crawford, wo Bush als Pappfigur in der Ecke steht, meint: „Diese Spinner haben bekommen, was sie verdienten.“

In Waco fährt ein Auto vor. Eine alte Frau und ein junger Mann steigen aus. Sie hasten mit mürrischem Blick zu Doyles Trailer. „Wir schätzen Journalisten nicht, sie kommen mit Vorurteilen, sie gehen mit Vorurteilen“, sagt Doyle. „Wer nicht versteht, was wir glauben, versteht sowieso nichts.“ Im nächsten Wagen Sheila Martin, eine kleine, zarte Frau mit indianischen und afro-amerikanischen Vorfahren. Sie sagt: „Ich kann erzählen, wir haben nichts zu verbergen.“ Sheila hat Mount Carmel mit drei ihrer sieben Kinder während der Belagerung verlassen, als die Polizei freies Geleit anbot; ihr Mann Wayne, ein Rechtsanwalt, der in Harvard studierte, drei ältere Töchter und ein Sohn blieben. Und starben. „Ich komme wieder zurück“, sagt sie, „weil ich hier meinen Schmerz mit Menschen teilen kann, die mich verstehen.“

Die Myrten flimmern in der Hitze. Doyle drängt zum Aufbruch in die Kapelle. „Wir haben Gottes Willen gelebt“, sagt Sheila im Gehen, „wir kamen aus der ganzen Welt, alle Rassen, alle Klassen, wir haben alles geteilt, keiner hatte persönlichen Besitz, wir waren eine Familie wie die Apostel. Sie hatten kein Recht, uns dafür zu verurteilen.“

Stimmt es, dass sich Koresh zahlreiche Geliebte hielt und Minderjährige schwängerte? Sheila: „Körperliche Vereinigung war die einzige Möglichkeit, Gottes Liebe mit dem Propheten zu teilen.“

Aber hat der Prophet nicht auch geherrscht wie ein Despot und Kinder blutig geschlagen, wenn sie seine kapriziösen Regeln verletzten? Sheila: „Manche würden sich wünschen, gezüchtigt zu werden, wenn sie dadurch gerettet werden könnten. Ein bisschen Blut ist dafür kein hoher Preis.“ Man denkt an die Empfangsdame der Touristeninformation von Waco, die sagte, begleitet von einem tiefen Seufzer: „Wie sollen wir das negative Image jemals loswerden, das uns diese Leute beschert haben?“

Doyle kam 1966 nach Waco. Schon damals befand sich dort das Hauptquartier der Branch Davidian, die als Splittergruppe der „Adventisten des 7. Tages“ entstand; die Nachbarn hielten es für eine FKK-Kommune. Nach dem Tod des Propheten Ben Roden übernahm dessen Frau Lois dessen Rolle. Sie propagierte unter anderem, der Heilige Geist sei weiblich. Koresh, der damals noch Vernon Wayne Howell hieß, kam 1981 und stritt sich mit Lois’ Sohn George um deren Nachfolge. Es ging dabei auch um eine exhumierte Leiche, die wiederbelebt werden sollte. Die Details würden an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Jedenfalls änderte Howell seinen Namen. David für König David, Koresh für Cyrus, den persischen König, der das jüdische Volk vom babylonischen Joch befreite.

Er kündigte ein Höllenfeuer an, das der Rückkehr des Erlösers vorausgehen werde. Chronisten vermerken gerne, dass es sich beim Tag des Höllenfeuers, das von Spezialeinheiten des FBI und der Texas Ranger ausgelöst wurde, um den 218. Jahrestag der ersten Schlacht des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges handelte. Und den 50. Jahrestag der Besetzung des Warschauer Ghettos durch die Nazis. Um sechs Uhr detonierte die erste Tränengasbombe. Die Panzer feuerten unablässig und rammten in Mount Carmels diverse Wohntrakte. Darüber kreisende Hubschrauber. Um 12 Uhr 06 entzündete sich das Feuer. Doyle weiß nur noch, dass er durch die Vordertüre ins Freie gelangte, Brandwunden an Hals und Händen, einer von nur neun Überlebenden. „Es war wie ein böser Traum, ein Erlebnis ohne Zeit und Raum.“ Er erzählte es vor der Steinplatte der Inschrift: Shari Doyle, 18. Doyles Tochter.

1995, wieder am 19. April. Timothy McVeigh parkt einen mit 4800 Pfund Benzin und dem Düngemittel Ammoniumnitrat beladenen Lieferwagen vor dem Murrah Building in Oklahoma City, wo staatliche Verwaltungen ihre Büros haben. Bei der anschließenden Detonation sterben 168 Menschen. McVeigh hatte in Waco gegen die Belagerung von Mount Carmel demonstriert. Der Anschlag, behauptete er später, sei seine persönliche Rache für Waco gewesen. McVeigh trug bei seinem Attentat ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit erfrischt werden mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen.“ Dass McVeigh, wie er bekannte, in Eigenregie gehandelt hat, unterstützt von nur einem Komplizen, ist eher fraglich. Wahrscheinlicher ist die These, dass er zum Handlanger regierungsfeindlicher Organisationen wurde, die Washington als Marionette einer zionistischen Weltverschwörung betrachten.

Wie schon in Waco blieben in Oklahoma City zahlreiche Fragen offen. Experten vermuten angesichts der Verwüstung weitere Sprengsätze im Gebäude, Verdächtige wurden nicht vernommen, Indizien verschlampt und die Ruine hastig abgerissen. Der „U.S. News & World Report“ enthüllte vor McVeighs Hinrichtung, dass seinen Rechtsanwälten 4000 Akten vorenthalten wurden. Auch in Waco hatten es FBI und Polizei eilig, die Trümmer zu beseitigen. Doyle schwört, dass von den Helikoptern aus auf Fliehende geschossen wurde, als Mount Carmel brannte. Sarah Bain stellte 1994 fest: „Die Regierung war in Waco völlig außer Kontrolle, hier standen die falschen Leute vor Gericht.“ Bain fungierte als Vorsitzende der Geschworenen beim Prozess gegen die neun Überlebenden und andere Sektenmitglieder. Neun Branch Davidian wurden 1994 verurteilt, obwohl unklar blieb, ob sie jemals eine Waffe benutzt hatten. Der Richter verhängte Freiheitsstrafen bis zu 40 Jahren, wobei er sich über die Empfehlung der Jury auf Milde hinweg- setzte.

„In unserer Gesellschaft grassiert ungeheuerliche Gewalt gegenüber unpopulären Menschen“, sagte vor einigen Jahren Ramsey Clark, der die Branch Davidian juristisch vertrat bei ihrer Klage auf Schadenersatz gegen die US-Regierung. Clark, Generalstaatsanwalt unter Präsident Lyndon B. Johnson, hatte schon während der Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren Ermittlungen gegen Polizisten erlaubt, die sich brutalen Vorgehens gegen schwarze Demonstranten und Totschlags schuldig gemacht hatten; damals eine ungeheuerliche, heftig kritisierte Entscheidung. Im September 2000 wurde die Klage der Branch Davidian zurückgewiesen, im Juli 2003 scheiterte sie vor dem Berufungsgericht in New Orleans; nicht zuletzt, weil eine Vielzahl von Indizien nicht zur Verhandlung zugelassen waren. Der „New York Times“ war die Nachricht eine Kurzmeldung wert. Die Schlagzeilen beschäftigten sich damals mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen im Irak.

Doyle und Sheila haben sich verabschiedet und sind auf dem Weg zur Kapelle, als ein unrasierter, schäbig gekleideter Mann mit Brille in der Türe des Besucherzentrums erscheint. Ron Gowins. Er kam vor zwei Jahren aus Philadelphia. Auf seinen Lebenslauf will er nicht weiter eingehen, außer, dass er jüdischer Abstammung, Zeuge Jehovas und Bhagwan-Jünger gewesen sei. Gowins ist arbeitslos; Doyle lässt ihn in der Kapelle übernachten. Gowins hat im Dickicht wieder nach Überresten gekramt. Er sucht nach Memorabilia des Infernos. Sie werden in einer Glasvitrine im Besucherzentrum ausgestellt, wo sich schon Hausschlüssel, Kleidungsstücke und eine demolierte Spielzeugpuppe befinden. Diesmal stieß Gowins auf die Hülse von Leuchtspurmunition. An der Wand hängen Fotos von Opfern der Branch Davidian und Mitgliedern des FBI, die sich vor den rauchenden Trümmern triumphierend in Pose werfen. Koreshs Porträt hängt nicht mehr an der Wand; es wurde geklaut.

Früher dachte Gowins über die Branch Davidian: „Das sind Durchgeknallte.“ Inzwischen überlegt er, sich ihnen anzuschließen. Auch er sucht nach der ultimativen Wahrheit. „Wir sprechen hier nicht über Tragödien, sondern Offenbarungen, wenn wir Gottes Offenbarungen ignorieren, wiederholt ER sie. Gott hat Waco zugelassen, um Amerika zu warnen.“ Er blättert in einer zerfledderten Bibel, der er mit Hilfe eines mysteriösen Codes versteckte Botschaften zu entlocken hofft. Die Vokabeln „Cyrus“, „Wako“, „Koresh“, „Howell“ hat er bereits auf einer Seite lokalisiert in Verbindung mit „Desolation“ (Verwüstung) und „Ambush“ (Hinterhalt). Während er über „Shekainah“ referiert, „den Ort, an dem Gott wohnt“, taucht eine texanische Familie mit zwei dicken Kindern auf. Ausflügler. Gowins will ihnen gleich das Buch der Sieben Siegel ans Herz legen, „die letzte Prophezeiung an eine verlorene Welt“ (Koresh). Das schmale Heft voll verquaster Sinnsprüche kostet einen Dollar. Die Eltern schieben ihre Kids panisch zurück zum Auto.

Was das Dutzend Gläubiger währenddessen von Doyle zu hören kriegt, kann man nur ahnen. Die Kapelle ist verschlossen. Doyle gesteht, dass er nicht zum Priester berufen sei, schon gar nicht zum Propheten. „Ich kann nur helfen, die Zeit zu überbrücken, bis Koresh zurückkommt.“ In welcher Form und wann, kann er nicht sagen. Doyle murmelte, bevor er ging, etwas von Galileo und der Erfindung des Perpetuum mobile. Und dass alle Propheten „der Inquisition anheim fallen“. Dann erklärte er noch, wie er war, ihr Messias. „David war ein guter Handwerker, ein begabter Mechaniker, es gibt Leute, die Wert auf die Feststellung legen, dass sein Großvater Zimmermann war.“ Auch Gitarre spielen konnte Koresh, so Doyle, wenngleich ihm seine Musik zu lärmend und primitiv erschien. „Sehen Sie, ich beurteile einen Menschen nicht danach, ob er gut aussieht oder der größte Typ des Universums ist. Aber er sprach die Wahrheit, den Geist Gottes.“

Sie haben Myrten genommen für die Gedenkstätte wegen einer Stelle in der Bibel. Dort, laut Doyle, werde beschrieben, wie ein Mann auf einem roten Pferd durch einen Wald von Myrten reitet. „Wir glauben, der Mann auf dem Pferd ist Gott, ER wird einen Platz mit Myrten wählen, wenn es zum Jüngsten Gericht kommt.“

Gerhard Waldherr

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