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Kultur: Die Staatsgalerie Stuttgart widmet sich dem Maler 96 Jahre nach seinem Tod

Für Paul Cézanne war er der "Vater und erste Impressionist". Immerhin war er als Einziger an allen acht Ausstellungen der französischen Freilichtmaler zwischen 1874 und 1886 beteiligt und galt als ruhender Pol der Gruppe.

Für Paul Cézanne war er der "Vater und erste Impressionist". Immerhin war er als Einziger an allen acht Ausstellungen der französischen Freilichtmaler zwischen 1874 und 1886 beteiligt und galt als ruhender Pol der Gruppe. Doch zu Lebzeiten waren dem Künstler, der Frau und acht Kinder zu ernähren hatte, weder Reichtum noch Ehre beschert; auch der Nachruhm galt bisher Cézanne, Monet, Manet und Degas.

Möglicherweise rührt dieses Versäumnis daher, dass Camille Pissarro erdgebundener als seine Kollegen war und in seinen Bildern unentwegt das Landleben pries. Monet und Sisley widmeten sich hingegen auch dem Wasser und seinen glitzernden Lichtreflexen. Überdies musterten die Nazis die Werke des Sohnes eines französischen Juden systematisch aus. So wurde er in Deutschland nie recht populär.

Nun also richtet die Stuttgarter Staatsgalerie die erste Pissarro-Retrospektive in Deutschland aus - 96 Jahre nach seinem Tod. Die Ausstellung konzentriert sich auf siebzig Gemälde und dreißig Papierarbeiten, um Pissarros reiches Schaffen von mehreren tausend Werken zwischen 1856 und 1903 zu belegen. Damit bleibt die Schau übersichtlich und bietet dennoch gute Beispiele seiner verschiedenen Arbeitsphasen.

Die Stuttgarter Impressionisten-Sammlung rundet die Zusammenstellung ab, indem sie den Einfluss von Corot und Courbet als Vorläufer der modernen Malerei auf sein Werk zeigt. Hier wird deutlich, wie rasch sich der impressionistische Stil individualisierte. Allerdings ist dieser Ausstellungsteil in einem ganz anderen Teil der Staatsgalerie untergebracht, so dass man in Pissarros Welt gerät, ohne Vorbilder und Begleiter gesehen zu haben. Seine Bilder erfordern ohnehin eine "Langsamkeit des Sehens", wie es Kurator Christoph Becker formuliert. Spontan erschließt sich sein weniger raffiniertes als naives und um Naturwahrheit bemühtes Werk kaum.

Pissarro orientierte sich zwar an der Natur, probierte aber anfangs sämtliche Maltechniken und vielerlei Farbkombinationen durch. Im Bild "Bäuerin beim Wollezupfen" (1875) kündigt sich bereits seine flächigfleckige Pinseltupferei an. Immer wieder malte er ländliche Motive, sparte aber auch das Thema Industrialisierung durch Ansichten von Fabriken nicht aus. Meist setzte er dabei kurze, gebogene und in viele Richtungen verlaufende Pinselstriche auf die Leinwand. Auf diese Weise verlebendigte er Bilder mit ihren scheinbar statischen Motiven.

Doch die enge Zusammenarbeit mit Cézanne und Monet blieb nicht von Dauer; um 1885 näherte er sich dem Pointillismus Seurats an. Seine Gemälde gewannen dadurch an konstruktivem Halt, verloren aber an natürlichem Schmelz, wie etwa das Bild "Stangen setzende Bäuerinnen" (1891) zeigt. Die rustikalen Motive wurden nun idyllisch verklärt, die Farben begannen, einem Feuerwerk an Rot-, Grün- und Gelbtönen zu gleichen - eine Sackgasse, wie Pissarro bald erkannte.

Fortan übte er wieder seinen breiten Pinselstrich, während die Farbpalette pointillistisch getönt blieb. Außerdem wandte er sich dem Thema Licht neu zu, malte in Stadtansichten so viele Grauvaleurs, wie er zuvor das Grün in satten Abstufungen festgehalten hatte. Im Bild "Die Boïeldieu-Brücke in Rouen, Sonnenuntergang, Nebel" (1896) fesselte ihn der Rauch, der von den Schloten aufsteigt. So musste er schnell arbeiten, um den atmosphärischen Wechsel einzufangen.

Dass die impressionistischen Techniken nicht einfach in den grafischen Bereich zu übersetzen waren, zeigen seine Papierarbeiten. Meist handelt es sich um Unikate, denn Pissarro veränderte nach fast jedem Druck die Vorlage. Die Grafik galt ihm als Experimentierfeld; er kombinierte die Aquatinta mit der Kaltnadelradierung. Manche Skizzen zeigen zudem, dass er seine Gemälde kompositorisch vorbereitet und offensichtlich nicht immer vor der Natur gemalt hat. Schließlich kehrte er zu seinem hell klingenden, intensiven Grün zurück, verewigt im Bild "Der Gärtner" (1899), das der Staatsgalerie seit 1901 gehört. 1937 wurde das Werk zwangsweise getauscht und erst 1962 wieder zurückerworben. Schon vor fast hundert Jahren schätzten die bodenständigen Schwaben also ihren Pissarro - und bringen ihn nun eindrucksvoll dem deutschen Publikum nahe.Staatsgalerie, Stuttgart, bis 1. Mai; Katalog (Hatje Cantz Verlag) 39 Mark.

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