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Philosophin mit politischen Träumen. Susan Neiman, die Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums.

© imago/Jürgen Heinrich

Die verarmte Linke: Susan Neiman attackiert die Wokeness

Stammesdenken oder Universalismus? Die Philosophin muss sich da nicht lange entscheiden.

Von Gregor Dotzauer

Dieses Buch rennt so viele offene Türen ein, wie es einem andere vor der Nase zuschlägt. Wie könnte man Susan Neiman nicht darin zustimmen, dass es sich beim Phänomen der Wokeness um eine überwiegend symbolpolitische, von Affekten geleitete Schwundstufe linken Denkens handelt? „Es beginnt bei der Sorge um ausgegrenzte Menschen und endet bei ihrer bloßen Reduktion auf das Ausgegrenztsein.“ Selbst wenn man die erklärte sozialistische Mission der Philosophin nicht teilt: Indem jede Minderheit ihren eigenen einsamen Kampf um Anerkennung führt, gerät die Idee einer Gerechtigkeit für alle aus dem Blick.

Neimans Essay „Links ist nicht woke“ hat zudem das Verdienst, Aufklärer wie Immanuel Kant, der zuletzt des offenen Rassismus geziehen wurde, oder Denis Diderot vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen, ihrem imperialistischen Zeitalter lediglich eine menschenfreundliche Maske verliehen zu haben. Er entreißt der Rechten eine Kritik, die sich nicht selten in der reinen Beschwörung der Chiffre woke für alle Modernisierungszumutungen erschöpft. Und er tut gut daran, dies mit einem theoretischen Ehrgeiz zu tun, der über die zahlreichen, teils gut argumentierten Einlassungen von so unterschiedlichen Stimmen wie Bernd Stegemann, Mark Lilla oder John McWhorter hinausgeht.

Aber ach, die Tiefe reicht bei Weitem nicht an den Ehrgeiz heran. Die Agenda eines philosophischen Universalismus, mit der sie antritt, wird überdehnt. Keine einzige ihrer drei im kulturkritischen Sinn durchaus nachvollziehbaren Hauptthesen hat bei näherem Hinsehen in ihrer Absolutheit Bestand. Es ist, erstens, zweifellos legitim, woken Aktivisten ein Stammesdenken nachzusagen. Doch mit welchem Recht spricht Neiman ihnen ab, zugleich im Namen anderer Minderheiten aufzutreten? Sind ihre Race- und Gender-Kämpfe, so tribalistisch sie verfahren, nicht auf internationale Solidarität ausgerichtet? Und steckt nicht im Begriff der Intersektionalität, also der Vorstellung, dass Diskriminierung nicht nur eine, sondern mehrere Merkmale einer Person umfassen kann, ein universalistischer Ansatz?

Altruismus als Egoismus

Es ist, zweitens, nicht zu leugnen, dass institutionelle Gerechtigkeit allein die Machtverhältnisse zwischen Menschen in all ihren Diskriminierungsschattierungen nicht aufhebt, und es ist Neiman darin zuzustimmen, dass Fortschritt in erster Linie gesetzgeberische Inititiativen erfordert. Sie legt sich unter anderem mit der Evolutionsbiologie an, die Altruismus als verborgenen Egoismus beschreibt. Doch mit welcher Chuzpe erklärt sie Michel Foucault, der sich mit seiner „Mikrophysik der Macht“ wie kein anderer Denker des späten 20. Jahrhunderts ins biopolitische Unterholz begab, zum postmodernen Buhmann?

„Dem Stil nach war er radikal“, schreibt sie, „doch seine Botschaft ist nicht weniger reaktionär als die Schriften von Edmund Burke oder Joseph de Maistre.“ Das ist so absurd, dass man einen Konservativen wie Burke gleich mit vor Neimans bösem Blick bewahren möchte. Foucault, den Neiman als Wiedergänger des Sophisten Thrasymachos aus Platons „Staat“ beschreibt, war kein sozialistischer Barrikadenkämpfer, sondern allenfalls ein Befreiungsromantiker im linken Milieu, der am Übergang von einer Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft gesellschaftliche Strategien im Umgang mit Sexualität, Psychopathologien und Strafjustiz erforschte. Vertrauen in eine munter voranschreitende Aufklärung war ihm so fremd wie ein wackerer Humanismus. Ohne seine Perspektive denkt man allerdings auf Anhieb dümmer.

Der Gipfel ist allerdings Neimans Versuch, Foucaults fatalen Einfluss mit demjenigen des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt zusammenzudenken: einen Einfluss, von dem sie selbst sagt, dass er eher in der Luft liege als durch Lektüre nachweisbar sei. Was soll man damit anfangen?

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Es mag, drittens, zutreffen, dass sich Woke, verliebt ins Dauerverhängnis, in einer Opferrolle gefallen, die der Wirklichkeit nicht entspricht. Was aber außer einem noch so leisen Wunsch nach einem besseren Leben soll sie sonst treiben? Mit der woken Fortschrittsskepsis erledigt Neiman auch gleich ausdrücklich die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno – und konservative Positionen gleich dazu.

Empathie für alle

Das größte Problem ist allerdings, dass Neiman im Namen eines philosophischen Universalismus argumentiert, den erst einmal jeder nachvollziehen kann. Unausgesprochen sind wohl die meisten halbwegs gebildeten Menschen insofern Universalisten, als sie sich in die Lebensbedingungen anderer Kulturen einzufühlen vermögen und von daher zu der Überzeugung gelangen, dass die eigenen moralischen Urteile als allgemeine Richtschnur gelten könnten.

Neiman macht dieses Gefühlsargument ungewöhnlich stark – mit dem berechtigten Hinweis, dass es in allen Kulturen Ansätze zu einem zumindest elementaren Universalismus etwa der Menschenrechte gibt. Wenn Universalismus aber heißen soll, dass moralische Urteile unabhängig von ihrer Zeit, der Kultur, der sie entspringen, und dem politischen System, das ihnen Geltung verleiht, Bestand haben, sind Zweifel erlaubt. Man muss sich deshalb nicht gleich als Parteigänger eines „ethnopluralistisch“ eingefärbten, völkischen Nationalismus oder schrankenloser Relativist attackieren lassen.

Susan Neimans Buch ist im Grunde eine lange Fußnote zu Omri Boehms im vergangenen Jahr erschienenem Essay „Radikaler Universalismus“ – auch wenn sie ihn nur einmal im Vorübergehen erwähnt. Er formuliert darin seine Idee von „metaphysischen Gerechtigkeitsprinzipien“ in scharfer Abgrenzung zu liberalen Konsensmodellen, von denen auch Neiman nichts wissen will. Dieser Universalismus folgt einem Denken, das den Primat der Philosophie vor der politischen Praxis beansprucht, dabei aber sehr wohl vom Eingreifen in die Verhältnisse träumt.

Jenseits der Kulturkämpfe

Denn es gibt nun einmal eine „kulturelle Linke“, die Richard Rorty, wie Neiman erwähnt, einmal als die „Foucault‘sche Linke“ bezeichnete. Sie hat sich ebenso sehr in Kulturkämpfe verstrickt, wie es die amerikanische Rechte mittlerweile am prominentesten in Gestalt von Ron DeSantis tut, der wenig andere Themen und Kompetenzen mitbringt.

Das Richtige und das Falsche, das Argumentierte und das Anekdotische, das Philosophische und das Feuilletonistische, gehen in Neimans temperamentvollem Essay so immer wieder Hand in Hand. Mehrfach bezieht sie sich auf die legendäre Debatte über die menschliche Natur, die Noam Chomsky und Michel Foucault 1972 im holländischen Eindhoven führten. Sie macht keinen Hehl daraus, wen sie für den Sieger hält. Wer sie auf YouTube noch einmal ansieht, wird jedoch schnell merken: Die beiden reden aneinander vorbei. Das gilt in vieler Hinsicht leider auch für Neiman und die Woken.

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