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Kultur: „Die Verunsicherung der Eltern ist groß“

Sie ist die „Super Nanny“, er arbeitet seit den 70er Jahren als Familientherapeut. Ein Gespräch zwischen Katharina Saalfrank und Helm Stierlin über Erziehung.

Frau Saalfrank, wir kennen Sie aus RTL, wo Sie gestresste Eltern beraten. Sie sind 33, Sie könnten ein klassisches 68er Kind sein.

SAALFRANK: Das bin ich gar nicht. Meine Eltern sind eher konservativ gewesen. Sie sind in den Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit groß geworden. Mein Vater ist Pfarrer, meine Mutter Lehrerin, und so haben sie sich viel mit dem Thema Erziehung beschäftigt.

STIERLIN: Ihre Eltern sind etwas jünger als ich. Ich bin Jahrgang 1926, der deutsche Gehorsamskult hat meine Generation stark geprägt. Prügel gehörte in der Grundschule zur Norm. Was Hitler in seinen Reden von der Jugend forderte, entsprach auch dem Ideal, das die meisten deutschen Familien in der Erziehung hatten: Die Jugend sollte zäh wie Leder sein, hart wie Kruppstahl und flink wie Wiesel.

Waren das auch die Ideale Ihrer Eltern, Herr Stierlin?

STIERLIN: Bei uns ging es etwas liberaler zu. Mein Vater war sehr skeptisch gegenüber den Nazis, er war auch nie Parteigenosse. Aber er wurde deutsch-national erzogen, und im Großen und Ganzen hat er diese autoritären Werte mitgetragen. Bei uns gab es zwar keine Prügel, aber ab und zu mal eine Backpfeife.

SAALFRANK: Ich habe auch einige Ohrfeigen bekommen, was ich damals als sehr ungerecht empfand. Viele sagen ja: „Das hat mir nicht geschadet“. Das würde ich so nicht sagen! Aber ich finde es wichtig, den Gesamtzusammenhang zu sehen und verstehe mittlerweile, wie es bei meinen Eltern dazu kam, dass ihnen auch mal die Hand ausrutschte. Erst heute setzt die Gesellschaft ja die Grenze: Jegliche Gewalt ist tabu. Bei meinen Eltern wurde in der Schule noch geschlagen, mit dem Gürtel und mit dem Stock auf die Finger. Da bleiben Verletzungen. Es rührt mich oft an, wenn ich mit meinem Vater heute darüber rede. Wenn Eltern selber Schläge erlebt haben, ist die Gefahr groß, dass sie etwas davon weitergeben. Bei meinen eigenen Kindern finde ich heute selbst Klapse indiskutabel.

Ihre Eltern hat das Modell der antiautoritären Erziehung also gar nicht interessiert.

SAALFRANK: Doch sehr, und sie haben bewusst gesagt: Ohne Grenzen geht es nicht. Aber wir konnten immer über alles sprechen. Bei uns gab es klare Regeln, viel Schönes, viele kleine und große Rituale, die Sicherheit und Geborgenheit gegeben haben und die ich heute übernommen habe, das gemeinsame Essen etwa. Ich glaube, wir erleben gerade eine Zeit, in der wir uns zwischen zwei Extremen einpendeln: Dem total Autoritären auf der einen Seite und der absoluten Grenzenlosigkeit der 68er auf der anderen.

Und bei Ihnen in der Therapie sitzen nun die Kinder der antiautoritären Erziehung.

STIERLIN: So kann man das nicht sehen. Die 68er-Bewegung war zwar ein Massenphänomen, gerade unter Studenten. Aber wie die dann mit ihren Kindern umgingen, hing mehr damit zusammen, was sie in der eigenen Familie erfahren hatten. Das ist viel prägender als eine abstrakte Theorie. Den 68ern ging es zwar um Erziehungswerte, aber in der Realität war es doch eher ein Politdrama.

SAALFRANK: Wenn man sich von einem sehr autoritären System befreit, ist es wohl notwendig, erst mal alles über Bord zu werfen und in das andere Extrem zu fallen. Das erlebt man auch in der Pubertät häufig: Wenn Kinder konservativ aufgewachsen sind, schlagen sie erst mal ins Gegenteil um und testen ihre Grenzen aus.

STIERLIN: Ich habe in den 60er Jahren in Amerika gearbeitet und habe die Studentenrevolte nur bei Besuchen in Deutschland miterlebt. Ich weiß noch, wie die Studenten Ratten durch den Klinikhörsaal laufen ließen. In den USA erinnere ich mich an einen Studenten, der im Hörsaal vor mir saß und die Füße auf den Tisch legte. Als ich ihn bat, sie runterzunehmen, sagte er: „Sir, we are in a free country.“

SAALFRANK: Was war Ihre Antwort?

STIERLIN: Dass ein Unterschied zwischen Freiheit und Unhöflichkeit besteht. Das hat er eingesehen.

SAALFRANK: Ich erlebe jetzt die Familien, die ihren Kindern keine Grenzen mehr setzen. Oder Eltern, die selbst Kinder aus dieser Generation sind. Die sagen mir oft, sie haben das gar nicht als grenzenlos, sondern als lieblos empfunden. Es ist egal, wann und ob man nach Hause kommt, ob man Hausaufgaben macht. Eine Mutter in meiner Beratung beschrieb diese Orientierungslosigkeit mal so: Müssen wir jetzt wieder machen, was wir wollen? Das ist wie mit einem Haus: Wenn man Wände baut, können sich die Kinder darin bewegen, und sie wissen, wo die Grenzen sind. Wenn da aber Gummiwände sind, spüren die Kinder nicht, dass jemand da ist.

Alexander S. Neill, der Begründer der „Summerhill“-Schule, setzte auf Selbstregulierung. Dass Kinder von selbst zur Schule gehen, weil sie merken, sie brauchen das.

STIERLIN: Das hat aber nicht geklappt.

SAALFRANK: Nette These, aber sehr abstrakt.

STIERLIN: Wenn die Kinder klein sind, brauchen sie Rituale, Zeiten, wo es Märchen gibt. Wenn sie in die Adoleszenz kommen, müssen sie lernen, ihren Alltag selbstständig zu regulieren. Das ist das zentrale Thema: Es ist wichtig, eine ausgewogene Balance zu finden, die sich dem Alter der Kinder anpasst. Eine Balance zwischen Führung, Grenzsetzung, die aber auch erlaubt, Autonomie zu entwickeln. Wenn man nur sagt, Kinder, jetzt macht mal etwas, kommt nicht viel dabei raus.

SAALFRANK: Nein, weil sie keine Mitte haben und nicht vergleichen können. Sich im Leben nicht zurechtzufinden, ist ein bisschen wie eine Reise in ein fremdes Land: Es ist sehr unangenehm, wenn man dort ankommt und überhaupt nicht weiß, wie man sich verhalten soll.

Früher wollte man die Kinder zu kleinen Revoluzzern erziehen, jetzt sollen sie sich möglichst in die Gesellschaft einpassen.

SAALFRANK: Zum Glück stehen Gehorsamkeit und Pflichterfüllung nicht mehr an erster Stelle. Dafür sollen Kinder jetzt möglichst kreativ und selbstbewusst sein. Das ist gut so, jedoch sind die Anforderungen hoch. Dreijährige sollen auf einmal schon still sitzen und bis zehn zählen können. Ich stelle da eine große Verunsicherung bei den Eltern fest.

STIERLIN: Das kommt daher, dass es in den letzten Jahrzehnten so viele Veränderungen gegeben hat, nicht nur auf die Werte bezogen, sondern auch was das Informationsangebot anbelangt. In der Demokratie können wir selbst entscheiden und herausfinden, was gut ist für uns. Die große Herausforderung ist nun, diese Chancen zu werten und sich nicht in der Informationsschwemme zu verirren.

Der Kinderschutzbund kritisiert an „Super Nanny“, dass es darin vorrangig um Gehorsamkeitserziehung gehe. Was sagen Sie als Familientherapeut dazu, Herr Stierlin?

STIERLIN: Ich habe vorher noch nie RTL geguckt, aber diese Sendung hat mich sehr beeindruckt. Ich möchte Frau Saalfrank ein Kompliment dafür machen, was sie aus diesen schwierigen Familiensituationen macht. Diese Mischung in ihrem Vorgehen hat mir gut gefallen, das reicht sehr nah an unsere systemische Therapie heran, das heißt stark vereinfacht, dass man sein Hauptaugenmerk auf die Familienkonstellation legt. Uns geht es darum, negative Zirkel – also das Muster der Interaktion – zu erkennen. Dann überlegen wir, wie wir diesen Zirkel durchbrechen können.

SAALFRANK. Vielen Dank, das freut mich. Bei der Arbeit ist ja eines sehr wichtig: Allein mit Kritik kommt man nicht weiter. Ich war neulich in einer Familie, die hat nur die Fehler des Kindes gesehen. Da kann man relativ schnell intervenieren und sagen: Ihr müsst mal einen anderen Blick auf die Dinge werfen, war das eben nicht toll, was euer Kind da gemacht hat?

STIERLIN: Können Sie kontrollieren, wie Ihre Arbeit nachwirkt?

SAALFRANK: Wir haben immer wieder Sendungen, in denen wir zeigen, wie sich die Familien entwickeln. Morgen zum Beispiel gehe ich in eine Familie, bei der ich schon mal war. Manchmal würde ich den professionellen Kontakt gerne länger halten und weiterbetreuen, das geht leider nicht. Ich muss die Familien, wie auch in der normalen Praxis nach Beendigung der vereinbarten Zeit dann an andere professionelle Institutionen übergeben.

Eine andere Kritik an der Sendung ist, dass die Kamera die Kinder entwürdigt.

SAALFRANK: Wenn ich in diese Familien komme, treffe ich auf Kinder, die seit vielen Jahren massiv entwürdigt wurden. Ich arbeite daran, dass sich die Konstellation innerhalb der Familie verbessert. Ich habe den Eindruck, dass sich viele Kritiker nicht ausreichend mit der Sendung auseinander setzen. Viele glauben, ich komme da mit einem Regelkatalog an, und damit hat sich die Sache. Auch die Familien erwarten oft einfache Klarheiten, aber die bekommen sie nicht von mir. Beziehung heißt Arbeit und Auseinandersetzung.

STIERLIN: Aber es ist natürlich eine Güterabwägung: Auf der einen Seite die Einbettung in dieses problematische Medium Fernsehen, mit der Gefahr, dass Kinder und Eltern unangenehmem Gerede ausgesetzt sind. Anderseits haben Sie die Möglichkeit, Menschen zu erreichen, die kaum Bücher zur Hand nehmen und nur in die Glotze schauen. Manches Reißerische in der Sendung hat mir nicht so gut gefallen, auch das Umfeld der Sendung. Diese Werbeblöcke mit McDonald’s und das Anbieten von Süßigkeiten fand ich problematisch, denn vor diesem Konsumwahn will man die Kinder eigentlich beschützen.

Können Sie in Ihrer Sendung denn Kritik üben, wenn die Kinder zu viel fernsehen?

SAALFRANK: Ich achte bei der Arbeit in den Familien darauf, dass die Kinder feste Fernsehzeiten einhalten. Ich sage nicht, es darf kein Fernsehen geguckt werden, darum geht es auch nicht. Sondern darum, dass die Eltern mit den Kindern ein Maß finden. Es geht nicht um Verbote. Das ist auch in meinen Filmen zu sehen.

STIERLIN: Wie viele Familien melden sich jede Woche für Ihre Sendung?

SAALFRANK: Es melden sich täglich Familien. Kürzlich riefen mich sogar die Kinder selbst an. Und auch Schulfreunde meiner Söhne haben schon gefragt, ob ich mal zu ihnen kommen kann. Eine Zeitung hat mal geschrieben, ich sei in der Terroristenbekämpfung tätig, das hat mich erschreckt, weil ich Mut zu Kindern machen möchte. Ich würde meine Arbeit in den Familien als Entwicklungshilfe bezeichnen. Mir geht es mit der Sendung aber auch noch um etwas anderes: das Thema Familie in allen Facetten zu zeigen und wieder ins Gespräch zu bringen.

Sie sehen eine Krise der deutschen Familie.

SAALFRANK: Ich sehe eine Krise in der Gesellschaft, dass die Familie nicht mehr wichtig genommen wird. Da ist so eine Beziehungslosigkeit. Freunde sind eben nicht das Gleiche, weil sie oft nicht den notwendigen Halt geben können. Es gibt so viele Eltern und Paare, die nicht zusammenbleiben. Ich sage nicht, dass eine Beziehung aufrechterhalten werden soll, wenn es nur Streit gibt. Aber insgesamt setzen sich viele nicht mehr so mit ihrer Beziehung auseinander. Platt gesagt: Wenn es zu kompliziert wird, dreht man sich um und sucht den nächsten Partner.

STIERLIN: In eine Familie mit mehreren Generationen eingebettet zu sein, ist eine Kraftquelle. Die Familie als Fels ist ein wichtiger Teil der Sinnfindung: Dass man sich in einer Generationenfolge erlebt, in der man etwas bekommt und etwas weitergibt, eine Kontinuität sieht.

Haben Sie selbst sich bewusst für Kinder entschieden?

STIERLIN: Für meine Frau und mich war ganz klar, dass wir Kinder wollen.

SAALFRANK: Ich wurde mit Anfang 20 schwanger, da stand ich kurz vorm Abitur. Wir haben uns gemeinsam entschieden, das Kind zu bekommen. Jetzt bin ich sehr froh, dass das so passiert ist, denn ich finde es sehr schwer, sich in der heutigen Zeit bewusst für Kinder zu entscheiden. Ich erlebe oft Paare über 30, die Kinder wollen, aber sich nicht trauen, weil sie glauben, nicht die finanziellen Möglichkeiten zu haben. Wenn man erst mal anfängt nachzudenken, dann wird es schon schwierig. Mittlerweile habe ich vier Söhne, der älteste ist elf.

STIERLIN: Wie schaffen Sie das alles?

SAALFRANK: Mein Mann und ich können uns das sehr gut aufteilen, weil er von zu Hause aus arbeitet. Wir haben uns von Anfang an organisieren können, und dann haben wir uns gesagt, wir wollen gleich noch mehr Kinder haben.

STIERLIN: Ich muss gestehen, dass ich das manchmal nicht so gut hinbekommen habe wie Sie. Berufstätig zu sein und ein guter Vater. Ein guter Vater muss verfügbar sein. Er muss Freude haben an gemeinsamen Aktivitäten, Wandern, die Kinder im Rucksack dabei haben, so etwas.

Waren Sie streng?

STIERLIN: Das kann meine Frau besser beurteilen als ich. Sie würde wohl sagen: Eigentlich nicht. Ich war sehr beschäftigt mit meiner Arbeit, als unsere beiden Töchter klein waren. Später habe ich das ein wenig bereut. Als die Kinder größer wurden und auch mal Schwierigkeiten hatten, habe ich mich schon gefragt: Was hast du dazu beigetragen? Ich war schon der Berater meiner Frau, wenn es irgendwelche Probleme gab. Aber sie würde im Rückblick wohl sagen, dass sie zu wenig von mir gefordert hat. Sie ist ja auch Therapeutin, und wenn unsere Kinder krank wurden, war das eine Katastrophe für sie. Sie hat nie zu mir gesagt: Jetzt machst du das für mich und gehst nicht in die Arbeit. Wenn sie sich mit mir auseinandergesetzt hätte, wäre wohl ein anderes Muster entstanden. Aber wir lebten nach einer ganz anderen Ordnung als Sie, Frau Saalfrank. Dass Ihr Mann zu Hause bleibt, das ist ein Modell, das wir nicht hatten.

SAALFRANK: Ja, wir haben den Vorteil, dass er als Selbstständiger arbeitet. Außerdem haben sich die Zeiten geändert!

STIERLIN: Allerdings: Er ist flexibel und übernimmt sicher viel Verantwortung, also überlegt er auch: Haben wir noch Klosettpapier? Wenn ein Mann mitdenkt, dann ist er wirklich gleichwertig. Aber das traf damals nicht auf uns zu.

SAALFRANK: Ich finde, ein guter Vater ist auch jemand, der offen sagt, ich hätte manches anders machen können. Das erlebe ich auch bei meinen Eltern, und es ist unheimlich schön, sich darüber auseinanderzusetzen, weil man so auch wieder näher zusammenrückt.

Wie viel Macht hat Erziehung überhaupt, und was ist genetisch vorherbestimmt?

STIERLIN: Da gibt es ständig neue Informationen. In der Psychiatrie schaut man jetzt sehr auf das Zusammenspiel von Genen und Umgebungseinflüssen. In der Adoleszenzforschung rückt die so genannte Peergroup, also die Gruppe der Gleichaltrigen, als prägende Größe in den Vordergrund. Da zeigt sich besonders das problematische Zusammenwirken von fehlender Familienstruktur einerseits und Jugendkultur als einzigem Auffangbecken andererseits.

SAALFRANK: Ein Kind ist wie ein Samen, der gesetzt wird, und den man auch wachsen lassen muss. Aber sicher gibt es Veranlagungen. Etwa das Temperament.

STIERLIN: Nur was sich in Kombination mit der Erziehung dann herausbildet, damit beschäftigt sich die Forschung sehr. Warum entwickelt sich ein Kind der Familie großartig und das andere wird psychotisch? Aus irgendeinem Grund stimmt es vielleicht nicht in der Kommunikation, das Kind erlebt sich abgelehnt, und dann kommen immer neue Erfahrungen dazu, die das bestätigen.

SAALFRANK: Generell kann man aber festhalten, dass Mütter und Väter sehr hohe Ansprüche an sich und an die Kinder stellen. Ich denke oft, das muss man ein bisschen herunterschrauben und den Eltern den Druck nehmen. Wir können zu einem Teil nur das weitergeben, was wir selbst erlebt haben, alles andere muss sich mit den Kindern in der Erfahrung entwickeln. Das sage ich auch zu meinen Kindern: Ich bin nicht perfekt, ich entscheide oft aus der Situation heraus.

Gucken Ihre Kinder „Super Nanny“?

SAALFRANK: Die meisten Sendungen nehmen wir auf, weil das so spät kommt, um viertel nach acht. Manchmal, wenn wir zu Hause diskutieren, kommt schon mal eine Bemerkung von meinem Ältesten, ich solle jetzt mal nicht so sein wie im Fernsehen. Dabei spiele ich da ja keine Rolle. Und muss ihm dann leider sagen: Ich bin so, wie ich immer bin.

Das Interview führten Jana Simon und Annabel Wahba

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