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„Jeden Tag packe ich den Koffer / ein und dann wieder aus“: Die Anfangstrophe des Gedichts „Dazwischen“ von Alev Tekinay.

© dpa

Essayband zum Thema Mobilität und Migration: Die Welt zwischen Koffer und Kleiderschrank

Vererbte Traumata und verschlossene Eltern: Der Essayband „Migration, Flucht und Kindesentwicklung“ erforscht mit klugen Beiträgen die migrantische Existenz.

Von Caroline Fetscher

In wenigen Zeilen skizziert die 1951 in Izmir geborene Alev Tekinay das Dilemma der migrantischen Existenz. „Jeden Tag packe ich den Koffer / ein und dann wieder aus“, beginnt ihr auf Deutsch geschriebenes Gedicht „Dazwischen“: „Morgens, wenn ich aufwache, / plane ich die Rückkehr, / aber bis Mittag /gewöhne ich mich mehr / an Deutschland“. So geht es weiter. „Jeden Tag“, resümiert das lyrische Ich zum Schluss, „fahre ich zweitausend Kilometer / in einem imaginären Zug / hin und her / unentschlossen zwischen / dem Kleiderschrank / und dem Koffer, / und dazwischen ist meine Welt.“

Zitiert wird dies in dem klugen, von Claudia Burkhardt-Mußmann und Frank Dammasch herausgegebenen Band „Migration, Flucht und Kindesentwicklung“ mit Essays und Studien zu den emotionalen Auswirkungen von Mobilität. Aktueller könnten die 15 Beiträge von Therapeuten, Pädagogen, Medizinern und Psychoanalytikern kaum sein – und uneingeschränkt empfehlenswert für alle, die in Lehr- und Heilberufen, in der Politik und als Helfer mit Migration befasst sind.

Entwertete Eltern suchen Flucht im Innern

Fast jede Migration, vermutet Mario Erdheim, enthält traumatische Elemente. Wer Land, Sprache und Kultur wechseln muss oder will, wird unweigerlich konfrontiert mit dem Aufeinanderprallen symbolischer Systeme. Wie sich Konflikte und Spannungen auf Individuen auswirken, beobachtet die aus Teheran stammende Frankfurter Analytikerin Mahrokh Charlier an Patientinnen, wenn sie zerrissen scheinen zwischen den Ansprüchen von Elternhaus und neuer Umgebung.

In der Welt der „Tradition“ hätten etwa Väter die Rolle, ihre Söhne in die Gesellschaft draußen zu leiten, ihre Töchter in die Sicherheit einer Ehe. Das Innere der Familie ist vertraut verknüpft mit der Außenwelt. Desorientiert und überfordert stehen der Vater und die migrantischen Eltern aber in einer Fremde, deren Sprache die Kinder besser beherrschen, und in der sie selbst nichts gelten. Entwertete Eltern suchen den Ausweg im Konstruieren einer Parallelwelt: Das Innen, die Familie, ist gut – das Außen, die Fremde, ist schlecht. Integrieren sich die Kinder in das „Schlechte“, kämpfen sie mit Verwirrung, Scham, Schuld und der Angst, die Familie zu verlieren.

Eindrücklich umreißt Marianne Rauwald, spezialisiert auf Fragen der transgenerationellen Weitergabe psychischer Traumata, die Lage von Kindern, deren Eltern durch die „dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“, durch Krieg, Gewalterfahrung und Entwurzelung den seelischen Halt verloren haben und ihn auch den Kindern nicht geben können. Im Gegenteil, unbewusst erwarten sie von diesen, dass sie Repräsentanten der Hoffnung, des Neubeginns seien, und zugleich das Band zur Vergangenheit spannen. Häufig belasten traumatisierte Eltern die ohnehin verstörten Kinder mit „Parentifizierung“, mit der impliziten Aufforderung, „Eltern der Eltern“ zu werden und Trost, Halt und Zuversicht zu vermitteln

Massive Aggressionen zwischen Generationen

Da die Kinder einerseits den Auftrag oft selbstverleugnend erfüllen, auf der anderen Seite mit dem eigenem Selbst in der neuen Gesellschaft, dem neuen Wir, ankommen wollen, können sich massive Aggressionen zwischen den Generationen entwickeln, auch Störungen der werdenden Persönlichkeit. Mit vermeintlichem Halt lockt dann unter Umständen religiöse Radikalisierung, das Phantasma einer alten-neuen „Heimat“.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der kurze, klare Beitrag der Soziologin Marian Kratz und der Pädagogin Hannah Schott-Leser „Zum Risiko unbewusster Dynamiken im Ehrenamt“. Mit guten Argumenten warnen sie vor der Glorifizierung der Laien-Helfer in Einrichtungen für Geflüchtete, deren Arbeit vielfach Staatsversagen bemäntelt und „chronifizierte Vorläufigkeit“ ebenso festschreibt, wie sie diffus ambivalente Beziehungen fördert, die nicht zur Autonomie der Angekommenen beiträgt. Einleuchtend die Forderung nach Schulung aller Helfer, um Basiskenntnisse zur Dynamik von Traumata zu erlangen und nach verpflichtender Supervision der Ehrenamtlichen zum Schutz von Helfern wie Flüchtlingen.

Claudia Burkhardt-Mußmann und Frank Dammasch (Hgrs.): Migration, Flucht und Kindesentwicklung. Das Fremde zwischen Angst, Trauma und Neugier. Brandes und Apsel, Frankfurt/ M., 272 S., 24,90 €.

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