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Kultur: Die Wundertüte

Ein Reader fürs Sommerloch: „Interarchive“ aus Lüneburg

Als eine Gruppe hochkarätiger Kunsthistoriker jüngst um eine Einschätzung der Documenta 11 gebeten wurde, einigte man sich flugs auf die Aussage, ein Großteil der Arbeiten in Kassel sei von der „Ästhetik des Archivs" geprägt. Diese Einschätzung überraschte nicht unbedingt aufgrund der Tatsache, dass auf der D11 kaum wirkliche Archive zu sehen sind; die Nennung des Begriffs „Archiv“ rief eher deshalb Erstaunen hervor, weil man nicht gedacht hatte, dass sich die Kategorie bis in die Kunstgeschichte hinein herumgesprochen hätte.

In der Tat ist die künstlerische Euphorie in Sachen Archive bislang ungebrochen. Die Themen Sammeln, Speichern und Archivieren verzeichnen seit Jahren Hochkonjunktur. Junge Künstler legen heute mit derselben Selbstverständlichkeit Archive an, wie sie früher Werke produzierten. Wie man diese archivarische Betriebsamkeit auch bewerten mag – jedenfalls sind die Verfahren der „Spurensicherung“, wie sie Günter Metken in den siebziger Jahren taufte, vom derzeitigen Kunstmarkt nicht mehr wegzudenken. Allerorten geht es um das Gedächtnis der Kunst und des Künstlers, der Museen und Musealisierungen, inklusive deren Ordnung und Unordnung.

Was all diese unterschiedlichen Projekte gemeinsam haben, ist der Verdacht, dass unser alltägliches Denken, Handeln und vor allem unser Erinnern nichts anderes ist als der Effekt von diskreten Praktiken der Ablegung und Speicherung von Daten: Was wir erinnern, ist nichts anderes als das, was uns von den Archiven eingeflüstert wurde. Gemeinsam mit Kunst- und Kulturwissenschaftlern arbeiten viele zeitgenössische Künstler heute an der Erkenntnis, dass jeder kulturelle Gegenstand erst von seinen Speichermedien hervorgebracht wird: Nicht wir sind Herr unserer Vergangenheit, sondern diejenigen Speicher und Archive, die wir konsultieren, um etwas über sie in Erfahrung zu bringen ­ und sei es nur die Erinnerung an eine Szene der Vergangenheit, die sich irgendwann als Foto entpuppt.

Bei der kollektiven Begeisterung war es nur eine Frage der Zeit, bis eine Sammlung all dieser Sammlungen erscheinen würde: Ein Meta-Archiv, das künstlerische Archive archiviert. Eine Publikation des Kunstraums der Universität Lüneburg beinhaltet rund 60 künstlerische Archiv-Projekte der letzten 25 Jahre, bietet eine Textsammlung rund um das Thema und dokumentiert eine Ausstellung, die im Kunstraum Lüneburg im Sommer 1999 stattgefunden hat. Bei der Masse an n, Projekten und Konzepten, die zusammengetragen wurden, ist es kein Wunder, dass der Band am Ende Telefonbuchstärke angenommen hat.

Den Anfang stellt eine Sammlung aus 1000 Boxen und Umzugskartons dar. Das Proto-Archiv stammte von dem Kuratoren Hans Ulrich Obrist, der eine überbordende Materialsammlung zur Kunst der neunziger Jahre dem Kunstraum der Universität überlassen hatte. Angesichts der bis an den Rand mit Büchern und Katalogen, Einladungskarten und Pressetexten sowie handschriftlichen Korrespondenzen vollgepackten Wundertüte aus dem Kunstbetrieb entschied man sich jedoch, die Boxen nicht auszupacken und ins Archiv zu verbannen. Statt die Kistensammlung als Quelle der Forschung zu verschlagworten, machte Obrist sie gemeinsam mit dem Künstler Hans Peter Feldmann zum Ausstellungsgegenstand.

Nicht nur Obrists Kistensammlung stellt ein Beispiel für die Auswüchse von archivarischen Leidenschaften dar, sondern ebenso das vorliegende Archivbuch. Bei der Auswahl der Texte wurde ein weiter Archivbegriff zugrunde gelegt, der es als „Einrichtung und Metapher“ definiert. Die Folge davon ist eine breit gefächerte Textauswahl, die angesichts der Ausweitung auf Museen, Bibliotheken und sonstigen Sammlungen bisweilen den Eindruck der Wahllosigkeit entstehen lässt. Glücklicherweise wird dieser weiche Archivbegriff von einer Auswahl an künstlerischen Projekten gekontert, bei der die Praktiken der Erstellung und Handhabung von Archiven im Mittelpunkt stehen.

Beim sommerlichen Durchforsten des Readers stößt man auf die sympathische Tatsache, dass sich künstlerische und textliche Beiträge in einem wesentlichen Punkt treffen: Künstler, Museologen und Architekturtheoretiker, Medienarchäologen und Kunsthistoriker, Bildforscher und Juristen entwickeln gleichermaßen eine augenfällige Schwäche nicht für die Ordnung, sondern die Unordnung des Archivs. Die Frage nach dem Ausgeschlossenen und Verbannten, das als Abfallprodukt jeder Einordnung entsteht, taucht in zahllosen Artikulationen auf.

Am Ende erstaunt, wie diszipliniert und überlegt zeitgenössische Künstler mit Themen wie Museum und Musealisierung, Bildverarbeitung und -speicherung, Wissensübertragung und -vermittlung umgehen. Während man am Anfang des Jahrhunderts noch auf die Idee kam, die Museen sämtlich niederzubrennen, gehen die Künstler heute so verantwortungsbewusst mit ihrem Bestimmungsort um, als wären sie selbst deren Direktoren. Ein bißchen fehlt einem am Ende fast das Zündeln. Knut Ebeling

Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld, Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln 2002, 640 Seiten, 40 Euro.

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