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Kultur: Die Zeit, die bleibt

Späte Freiheit, letzter Wille: Isabel Coixets „My Life Without Me“ im Wettbewerb

Ann ist 24. Mutter von zwei süßen Töchtern. Frau eines netten Nichtsnutzes. Bewohnerin eines adrett eingerichteten kleinen Wohnwagens, zusammen mit ihrer kleinen Familie. Duldsame Tochter einer verbitterten Frau und eines Mannes, der seit zehn Jahren im Gefängnis sitzt. Und Putzfrau nachts in den Fluren der Uni. Ann bringt ihre Familie durch, immer sanft gestimmt, eine Alltagstraumfrau, die alle Alpträume des Lebens widerstandslos und offenbar rückstandslos resorbiert, eine tapfere, kleine Frau mit einem tapferen kleinen Leben.

Dann, eines Tages die Ultraschall-Diagnose: Du bist 24, Ann, aber du hast nur noch zwei Monate zu leben oder drei. Du hast Gebärmutterkrebs, und die Krankheit ist schon länger durch deinen tapferen Körper gewandert und fast am Ziel. Was macht eine junge Frau wie Ann mit einer solchen Todesurteilsnachricht, die der Arzt ihr lieber nicht ins Gesicht sagt? Sie weint, wischt die Tränen weg. Sie wird niemandem etwas sagen und stattdessen lieber etwas tun. Und hoffen, dass ihr die Zeit dafür bleibt.

Isabel Coixets „My Life Without Me“ gibt ihr und uns exakt diese Zeit. Also darf die stets wunderbar sanfte, offene und zugleich rätselhafte Sarah Polley als Todgeweihte ihre gesamte LebensabschiedsWunschliste abarbeiten – so genau und zielbewusst und ganz für sich, wie sie auch bisher in aller Liebe zu allen anderen immer dieses genaue, zielbewusste Ganzfürsichsein hatte. Nur: Man hatte es noch nicht so recht bemerkt. Und nun soll man es nicht so recht bemerken. Wenn Ann sich zum Sterben hinlegt, weil alles getan ist, soll da für niemanden mehr als ein kleines Unwohlsein sein.

Ein Film, der die Tragik seines Themas so eisern an die Kandare nimmt, hat zwangsläufig Wucht. Wahrscheinlich ist „My Life Without Me“ der eisernste der weiblichen Einsamkeitsfilme dieser Berlinale – und seine auch formale Strenge und Sicherheit macht, dass wir ihm lange gebannt zusehen und erst spät mit einem leisen Fragen beginnen. Ist es wirklich so gut, den Töchtern für jeden Geburtstag vorab eine Botschaft auf Kassette zu sprechen, bis sie achtzehn sind? Steht die Tugend solcher Fürsorglichkeit über den Tod hinaus nicht dem Recht auf Verdrängung im Wege? Und spricht es nicht gegen Anns auch ins Sterben mitgenommenes Lebensprinzip unendlicher Güte, dass sie den Mann, den sie in ihren letzten Lebenswochen noch geheim lieben lernt, vorsätzlich unglücklich macht? Und nimmt die so vom Gutsein Getriebene ihrer Familie nicht auch etwas, indem sie ihr, so grausam das klingt, den gemeinsamen Abschied nimmt?

„My Life Without Me“ sucht keine Antworten auf diese Fragen. Er feiert in pathetischer Stille die späte Freiheit, die er seiner Heldin schenkt. Und zeigt sie – vielleicht auch dieses, ohne es so zu wollen – als Apotheose des früheren Pflichtgefühls. Ann macht nicht alles anders, nur weil sie sterben wird, sie macht einfach weiter. Je länger man darüber nachdenkt: immer tiefer zum Fürchten, diese Lektion in Liebe.

Heute 15 und 18.30 Uhr (Royal Palast), heute 22.30 Uhr und noch einmal Sonntag, 22.30 Uhr (International)

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