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Kultur: Die Zeit schlägt zurück

Kurzer Roman, langer Abend: Frank Castorf bringt Tschechows „Das Duell“ auf die Volksbühne.

Irgendwann, die vierte Stunde läuft an diesem Tschechow-Abend in der Berliner Volksbühne, kommt Kathrin Angerer zu einer Art Quintessenz: „Glaube ohne Taten ist tot“, haucht sie gespielt großäugig unter ihrem Kopftuch hervor, um plötzlich zu stocken: „Aber Taten ohne ... Taten ohne ...“. Am Ende zieht sie sich mit einem entschiedenen „Zeitvergeudung, weiter nichts“ aus der Affäre.

Grandios spielt Angerer den einfältigen Diakon Pobedow, der in Tschechows Erzählung „Das Duell“ ständig von Lachkrämpfen gebeutelt wird. Grundlos, versteht sich. Denn die Amüsement-Anlässe halten sich in Grenzen im dürren Kaukasus, den Bühnenbildner Aleksandar Denic für Frank Castorfs zweite Tschechow- Inszenierung in einem munter vor sich hindampfenden Geröllhaufen versinnbildlicht hat. Darüber thront – als sozialer Dreh- und Angelpunkt – eine düstere, verwinkelte Bretterbude, wo alsbald der triebgesteuerte Petersburger Beamte Lajewski und der sozialdarwinistische Naturwissenschaftler von Koren aufeinandertreffen. Der Erste, ein passionierter Wodkakonsument und Zeittotschläger, war mit seiner verheirateten Geliebten Nadeshda Fjodorowna hierhergeflüchtet. Kaum angekommen, ist er der Frau ebenso überdrüssig wie der kaukasischen Ödnis und wälzt Geldbeschaffungspläne für seine (alleinige) Rückreise.

Für Lajewskis strammen Gegenspieler von Koren, der angeblich die lokale Fauna studiert und sich mit dem Statement „Ich bin Soziologe und Zoologe, was das Gleiche ist“ einführt, stellen derart selbstdisziplinlose Subjekte eine existenzielle Bedrohung dar. Man müsse Lajewski und die Fjodorowna, erklärt der Naturwissenschaftler, „im Interesse der Menschheit“ ausmerzen wie „Schmeißfliegen“.

Kurzum: Tschechows 1891 erschienener Kurzroman liest sich wie die Antizipation bestialischer Großmachtsideologien und Massenvernichtungen des 20. Jahrhunderts. Frank Castorf hat allerdings nicht nur faschistische beziehungsweise stalinistische Diktaturen im Blick, sondern multipliziert die weltanschaulichen Perspektiven, Zeitebenen und Frontverläufe so lange, bis der Tschechow-Stoff angemessen heillos assoziationsumwuchert ist – vom abstrakten Ideologien- Crash über den Tschetschenienkrieg bis zum Prenzlauer-Berg-Öko-Fanatismus und den volksbühnentypischen Selbstreferenzen. Die Darreichungsformen hüpfen dabei – wie immer bei Castorf – lässig vom entlegensten Philosophem bis zum allernächstliegenden Kalauer.

Eine der zahlreichen ideologischen Demarkationslinien verläuft an diesem Abend zwischen Männern und Frauen. Bis auf den gastgebenden Arzt Samoilenko, den Hermann Beyer als würdevoll kampferschlafftes Patriarchatsrudiment spielt, werden sämtliche Rollen von weiblichen Volksbühnen-Stars bestritten: Sophie Rois zielt als Lajewski in einer brandheißen Mischung aus beiläufiger Coolness und unverschämter Vitalität gleich zu Beginn mit der Kalaschnikow ins Parkett. Lilith Stangenberg schleudert die Worte der bei Tschechow stets kopfschmerzgeplagten Nadeshda Fjodorowna mit messerscharfer Aggressivität von sich. Und Silvia Rieger irrlichtert in ihrer Doppelrolle als von Koren und als latent faschistoide Aristokratenhausfrau Marja Konstantinowna, die Geschlechtsgenossinnen am liebsten nach dem Verschmutzungsgrad ihrer Unterwäsche klassifiziert, mit geboten verkniffenem Fanatikerinnengesicht über die Leinwand. Denn natürlich setzt Castorf sein bewährtes Kamera-Perspektiven-Spiel auch im „Duell“ fort: Große Teile des Abends spielen im schwer einsehbaren Bretterverschlag und werden lediglich per Videokamera nach draußen übertragen.

Immer wieder überblendet der Volksbühnen-Chef sein dramatisches Matriarchat dabei mit Szenen aus Jan Schmidts tschechischem Science-Fiction-Film „Ende August im Hotel Ozon“ von 1966. Dort zieht eine militante Frauengruppe nach einer nuklearen Katastrophe durch die zerstörte Landschaft und sucht nach einem zeugungsfähigen Mann zwecks Überlebenssicherung der Spezies. Castorf und sein hochklassiges Ensemble lassen sich von ihrer Assoziationslust gewohntermaßen treiben: Von Schmidt geht’s zu Tarkowskis „Stalker“, von dort aus über den Topos der „verbotenen Zone“ in aller Lockerheit zu ostzonalen Befindlichkeiten und schließlich wieder zurück zur ultimativen Genderdiskurs-Parodie, in der ein kreischender Frauenhaufen den grundanständigen Hermann Beyer mit Grandezza aus der Bretterbude schmeißt, um ihn später kleinlaut zu Fortpflanzungszwecken heimzusuchen.

Dabei entstehen einerseits so großartige Szenen wie das geradezu liebevolle Besäufnis, in dem sich Rois und Beyer im bretterverschlageigenen Messingbett ko-alkoholisierend aneinanderkuscheln. Andererseits strapazieren diese assoziativen Stoffdurchmessungen bewusst die Zuschauergeduld und produzieren zweifelsohne immense Durststrecken. Da aber andernorts zurzeit die theatrale Wirkungsökonomie zu grassieren scheint, wo einem Regiegedanken gern genau ein Darstellungsmittel zugeordnet ist, kann man diesen Überschuss allerdings auch als beglückenden Luxus empfinden. Logisch, dass Castorf Lajewski und uns nicht mit einer finalen Läuterung entlässt: Statt des titelgebenden Duells ohne tödlichen Ausgang gibt es jede Menge Mordopfer und offene (Weltanschauungs-)Fragen. Christine Wahl

Nächste Vorstellungen am heutigen Samstag sowie am 5.4. und 13.4., 19.30 Uhr

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