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Diederichsen über Authentizität: Sei voll authentisch! Erfinde dich neu!

Wie die Idee vom Echten und Unverstellten zur Marktstrategie wird.

Dass etwas authentisch sei, ist meist noch immer ein Ausdruck der Hochschätzung. In anderen Debatten gibt es aber schon seit Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fetisch der Echtheit. Er begegnet einem gerade dort so oft, wo etwas massenhaft verkauft werden soll. Dabei ist die Aussage, dass etwas ungelogen, unverstellt, echt sei, meist nie klar als ein ästhetisches oder ethisches Urteil gekennzeichnet. Es werden fast immer ästhetische und ethische Perspektiven gezielt vermischt; ob in Kunst, Psychologie oder der Produktwerbung, bei Antonin Artaud, Joe Cocker oder „Big Brother“, am Stammtisch oder in sozialen Netzwerken.

Authentizität konnte sich als Kampfbegriff nur dort entwickeln, wo etwas durchgesetzt werden muss, dessen Werte längst durchgesetzt sind. Sie begründet darum so oft die klassischen und dennoch immer wieder neu ausgetragenen Kämpfe gegen Doppelmoral: vom Kampf gegen die bürgerliche Lebenslüge bei Ibsen bis zur sich nicht verbiegenden Bio-Bäuerin in einer ARD-Öko-Heimatschnulze.

Authentisch sein zu wollen, entstand als Bedürfnis in den späten fünfziger Jahren und schrieb sich dann durch die Rock-Kultur und andere, vor allem weiße, männliche und heterosexuelle Befreiungserzählungen fort. Dazu gehört, dass das Selbstbewusstsein des arbeitenden, einigermaßen gut bezahlten Angehörigen der weißen Mehrheitsgesellschaft eigentlich schon als durchgesetzt, als gutes Recht jedes Mitglieds dieser Gruppe gilt – und dass aber dann doch merkwürdige Spannungen, Neurosen, Angstzustände und Ausraster auftauchen und Katzen über heiße Blechdächer hetzen.

Man ist als eigentlich stolzer Mann doch nur ein Untergebener, als Frauenbeherrscher doch ein Betrogener und Kastrierter. Als Angehöriger einer Wohlstandsgesellschaft wird einem Luxus, Erholung, Urlaub und Sinnesgenuss versprochen, um den man aus scheinbar kontingenten und doch als strukturell geahnten Gründen ständig betrogen wird. Soziale und ökonomische Differenzierung zwingt einem auf noch perfidere Weise als der Gehorsam gesellschaftliche Rollen auf.

Das ist die Konstellation, in der der Rock ’n’ Roll geboren wird. Männerrebellionsfilme wie „On the Waterfront“ oder „The Wild One“, die angry young men und das kitchen sink drama in Großbritannien gehören dazu, auch die Anfänge von Fluxus, Happening und Performance Art. Die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre sind sich in all ihren künstlerischen und kulturellen Praktiken darüber einig, dass es zu viel formale Unterscheidungen, Trennungen, Rollen und Vorschriften gibt, die die Menschen, so sagen sie, und meinen vor allem Männer, daran hindern, frei zu sein.

Natürlich bedeutet das Lob der Authentizität im Rock-Diskurs nicht, dass jemand einfach die Versprechen erfüllt bekommt, es lobt nicht den satten Bürger oder den glücklichen Handwerker, der sein eigener Boss ist, außer vielleicht Bruce Springsteen. Sondern es geht um denjenigen, der in einem Akt der Befreiung sein Einssein mit sich selbst erzwingt.

Bereits in den fünfziger Jahren wird die heroische bürgerliche Erzählung der Revolte gegen die Lebenslüge in der Form des Rock ’n’ Roll und begleitender Kunstformen verstetigt und verallgemeinert. Es entsteht eine multimediale Form, die Popmusik, deren strukturelle Regel verlangt, dass die Performer stets damit spielen, keine Rolle zu spielen und sie selbst zu sein – und das doch nie ganz sind. Damit erhält die Popmusik einen besonders hohen Gebrauchswert außerhalb ihrer künstlerischen Praxis. Denn durch sie lassen sich Rollenkonflikte besonders gut markieren, managen, adressieren.

Sobald es aber diese künstlerische Disziplinen gab – sei es in den sich in dauerhafter Unzufriedenheit einrichtenden Gegenkulturen, sei es in der Selbstdarstellung der Performance Art, sei es in einer Belletristik mit Tagebuchcharakter, die schonungslos mit dem eigenen Selbst umgeht–, geriet die Vorstellung vom Authentischen in die Krise. Immer mehr Beteiligte begriffen in der notwendig offenen künstlerischen Praxis, dass sie eigentlich nur längst durchgesetzte Werte erarbeiteten. Die künstlerische Form, das Experiment, die Ungeklärtheit des Status des Performers zwischen Rolle und Selbst schien aber einmal viel mehr zu ermöglichen – andere Ziele als die Aufhebung einer erzwungen Rolle.

In der sogenannten „Rockism“-Debatte in den späten Siebzigern in Großbritannien standen sich die Gegensätze erstmals direkt gegenüber: hier der Blues-Rocker, dessen Publikum die Qualität einer Performance nach dem echt geflossenen Schweiß bemaß. Dort der Transformist, der sich freute, wenn Rollen und Stereotype durch frei erfundene Identitäten und neue Formen der Lust und der Sozialität gekontert wurden. Das zieht sich durch von der Glam-Rock-Generation mit David Bowie und Marc Bolan über die Idee einer subversiv-affirmativen Popmusik bei Green Garthside und seinen Scritti Politti bis zu Projekten wie Pulp in den neunziger Jahren oder dem Aufstieg queeren Pops mit Antony and the Johnsons oder Rufus Wainwright im letzten Jahrzehnt.

Die Pointe unserer Gegenwart ist natürlich die, dass beide Positionen normativ wurden. Sie sind nicht mehr künstlerisch vermittelte Strategien, die eröffnen, wie man leben kann, wie man sein Recht bekommt, wie man den Systemimperativen antworten kann. Sie sind selber Imperative geworden. Erfinde dich neu! Sei du selbst! Also erfinde dich haltlos und bodenlos neu und verkörpere das so, als wäre das immer schon deine Natur gewesen! Oder noch schlimmer: Erfinde dich nicht einmal haltlos, sondern den herrschenden Marktanforderungen entsprechend neu und benimm dich so, ja glaube an die Wahrhaftigkeit, Authentizität und Traditionalität deiner Erfindung! Identifiziere dich! Beweise deine so hergestellte Identität durch Gefühlsausbrüche, Schweiß, Tränen! Beide Positionen sind nicht mehr Punkte in einer Auseinandersetzung zwischen zwei Fraktionen der Linken, sondern wurden zu idealen Methoden der Selbstzurichtung für die outgesourcten Selbst-Unternehmer.

Der Nachteil all dieser Positionen ist ihre Reduktion auf Strategie – die eigene wie die der triumphierenden Gegner. Aber Strategie tendiert, wenn man sie als solche betrachtet, immer zur Fatalität. Das Beste, was sie bieten kann, ist ein Sieg. Und wer will schon nur Erfolg? Es ist also wahrscheinlich noch etwas Konkreteres, wenn gerade das Urteil der Authentizität und seine Umsetzung in bestimmte ästhetische Valeurs so ungut mit den Systemimperativen postfordistischer Arbeit korrespondiert.

Und dieses Andere suchen wir in der Kunst: Es gibt die seit fünfzig Jahren zu beobachtende Neigung, Intensität und Authentizität und andere erstrebte Eigenschaften von Kunst nicht an der Vergegenwärtigung intensiver Momente selbst, sondern an äußeren Anzeichen festzumachen und die Intensität und Authentizität danach zu bemessen. Als Vorbild für diesen Kultus des Schweißes und der Lautstärke, des Bluts und der Scham kann die Pornografie gelten, die die Echtheit ihrer Darbietung durch die Ausstellung von Körperflüssigkeiten bestätigt.

Dies ist dem Ausbleiben einer Grenze, dem Fehlen einer Unterscheidung zwischen Kunst und Leben geschuldet – und dem hohen Gebrauchswert, den die Performancekultur der Popmusik hervorgebracht hat. Gerade weil sie die, wenn man so will, erzdemokratischen und revolutionären Tugenden des Durchsetzens und Neuerfindens von Lebensmöglichkeiten so gut beherrschte, so gut steuerbar machte, ist sie so ideal für Produktionsmodelle im Bio-Kapitalismus. Deshalb gelingt es ihr so famos, Selbsterfindung und Selbstidentität zu Normen und Imperativen werden zu lassen.

Wo immer Kunst und Leben, Kunst und Politik, Theaterwelt und Lebenswelt ohne Weiteres zusammenfallen, überall dort, wo Kunst glaubt, unumwunden keine Kunst mehr sein zu können, produziert sie reine Strategie. Und die greift sich im Zweifelsfall immer die Macht.

Der Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Autor am Deutschen Theater Berlin gehalten hat. Diedrich Diederichsen ist Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien.

Diedrich Diederichsen

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