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Cover von Christine Lavants "Das Kind"

© Promo

Christine Lavant: Das Kind: Dinge der Nacht

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Christine Lavant berichtet in ihrem Debütroman "Das Kind" von dem Alltag im Kinderheim. Nun wird das Buch neu aufgelegt.

Von Caroline Fetscher

Alle Gebete sind fort. Auch das kleinste.“ So fasste die Erwachsene ein Stück ihrer einstigen Kinderwelt in Worte. „Dafür sind alle Dinge der Nacht da“. Solche Dinge erlebt „das Kind, in dem stets eine irgend geartete Furcht ist“: Gitterbetten, Gewalt, Schlafsäle, Schmerzen, Anstaltsflure, Wärterinnen. Und das Warten auf Wunder und Zeichen. Im Spital ging die Kinderbehandlung fließend in Kindesmisshandlung über. Wehren kann man sich dagegen nur mit der und in der Fantasie.

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Christine Lavant, geboren am 4. Juli vor 100 Jahren in Kärnten, war selber das Wunder, auf das sie gehofft hat. Das neunte Kind eines Bergarbeiters, chronisch krank durch Mangelernährung, verbringt Monate in Anstalten, verliert fast Augenlicht und Gehör, und emigriert aus eigener Kraft in die Sprache der Poesie. Ein Arzt hatte ihr Bücher geschenkt, sie las Goethe, Rilke, Dostojewski. Bekannte schenkten ihr eine Schreibmaschine, und als Lavants erstes Buch „Das Kind“ erschien – eben der poetische Bericht über die Erfahrungen in der Anstalt – lebte die Autorin davon, dass sie Strickarbeiten verkaufte, Textilien statt Texte.

Ihr kurzer, dichter Debütroman „Das Kind“, zuerst erschienen 1948, nun zum Hundertsten neu aufgelegt (hrsg. und benachwortet von Klaus Amann, Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 88 S., 16,90 €) ist von überwältigender Dreidimensionalität und Präsenz. Lavants Gegenstände, Stimmungen, Gesichter sind da, als würde man ihr beim Hervorbringen der Sätze zuhören. „Es schreibt sich selbst, ich halte nur die Feder“, hat sie einmal gesagt. Heimweh: Die Anstaltskinder zeichnen mit abgebrannten Streichhölzern oder feuchten Steinen ihr Zuhause, Stube, Truhe, Brunnen, Treppen, eine Nähmaschine sogar. Sie wollen einander übertrumpfen. Ein Mädchen kritzelt nur Hieroglyphisches, ihre Vorstellung vom Elternhaus ist schon zerfallen.

Eine „Arme-Leute-Krankheit“ wird sie wohl haben, die anderen sehen hin. „Aber da ist überall Herablassung, bis an die äußersten Ränder, wo eigentlich schon der Spott beginnt.“ Viel wird seit einigen Jahren geredet und geschrieben über die Katastrophen der Anstalten für Kinder, die Erziehungsheime, Kinderkliniken, Kinderpsychiatrien. Sprachlich wird das Thema so sehr mit hilflosem Empörungsvokabular abgehandelt, wie mit behördlicher Sterilität, bis an die äußersten Ränder, wo eigentlich schon die Grausamkeit siedelt. Wer es besser erfassen will, der sollte Lavant lesen. Auch, weil ihre Sprache ein Geschenk ist.

In Deutschland streiten derzeit Tausende Opfer der Kinderpsychiatrien mit den Behörden um Entschädigung. Am „Runden Tisch“ für die Heimkinder hatten sie keinen Platz, sie passten nicht ins behördliche Profil. In ihrem Inhalt ähneln die Berichte, wie kürzlich im Deutschlandfunk zu hören war („Die Psychiatrie-Opfer warten noch immer“, nachzulesen auf deutschlandfunk.de), denen der ehemaligen Insassen fast aller Anstalten für kollektive Kinderunterbringung der Nachkriegsjahre. Nur liegt ihr Fall noch drastischer. Wegen der Euthanasie-Morde der Nationalsozialisten waren die Anstalten unterbelegt und bangten um ihre Mittel.

Burkhard Wiebel, Neurowissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, erklärt, dass deshalb tausendfach Intelligenzquotienten gefälscht wurden. Auch hochintelligente, für „schwer erziehbar“ oder „gestört“ erklärte Kinder und Jugendliche wurden zu „Schwachsinnigen“ erklärt. In Kliniken leisteten sie abwechselnd Zwangsarbeit und wurden medikamentös ruhiggestellt. Aber die Institutionen waren wieder bei Kasse. Das Anstaltsklima, das sich in Lavants Meisterwerk spiegelt, gab es generell überall, in Deutschland wie in Österreich. Sadismus gegen Kinder war eine emotionale Seuche, und ist es teils noch. „Der Kindheit beraubt“ heißt eine Studie von Reinhard Sieder und Andrea Smioski zur Gewalt in den Erziehungsheimen der Stadt Wien. (Studienverlag, Innsbruck, Wien, München, Bozen, 2012. 568 S., 19,90 €). Sie liest sich soziologisch sachlich und ist doch zugleich der notwendige politische Kommentar zu den Verhältnissen, von denen Lavant poetisch erzählt.

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