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Director’s Cut: Die Blechtrommel enthüllt neue Geheimnisse

Zwanzig Minuten mehr: Nach 31 Jahren bringt Volker Schlöndorff den "Director’s Cut" der "Blechtrommel" heraus, auf DVD.

Der Anruf kam von den Geyer Kopierwerken in Berlin. Sie entrümpelten gerade und wollten von Volker Schlöndorff wissen, ob sie die 60 000 Meter Negativmaterial der „Blechtrommel“ entsorgen könnten. 30 Jahre lagerten die 200 Büchsen dort. In welchen Büchsen verbarg sich womöglich Interessantes? Dafür musste eigens eine Negativ-Cutterin aus dem Ruhestand aufgescheucht werden: Die Damen mit den weißen Handschuhen gibt es im digitalen Zeitalter nicht mehr.

Als Schlöndorff die alten Aufnahmen sah, war da erst mal dieses emotionale Moment. „Die Schauspieler, die ich so gut kenne, so jung wiederzusehen,“ das gab den Ausschlag für die Idee zum „Director’s Cut“, zusammen mit all den Szenen, auf die sie damals verzichteten. United Artists hatte auf einer Maximallänge von 135 Minuten bestanden, mit der Goldenen Palme 1979 und dem Oscar 1980 wurde „Die Blechtrommel“ ein Riesenerfolg. Also bloß nicht dran rühren. „Nichts ist so gut“, sagt der Regisseur, „dass man es nicht noch besser machen könnte.“

Zu den geopferten Bildern gehörte auch eine Sequenz, in der David Bennent einen langen Monolog spricht, über Rasputin und Goethe. Er schaut direkt in die Kamera, ohne mit der Wimper zu zuckern, ohne sich zu verheddern. Der unverwandte Blick des Blechtrommlers habe ihnen damals wohl Angst gemacht, vermutet Schlöndorff heute: „Das war der Schritt zu weit.“ Der Blick hat ihn angerührt, auch wenn das Kasperletheater mit halb nackten Tänzerinnen im Bildhintergrund – so stellt sich der kleine Oskar Rasputins russische Orgie vor – etwas plump geraten ist.

Die Entscheidung, resümiert der Regisseur, traf das Material. Am 15. Juli kommt der „Director’s Cut“ der „Blechtrommel“ auf DVD heraus (bei Arthaus, auch als Blu-Ray) , eine um gut 20 Minuten verlängerte Fassung. Dazu gibt es Interviews mit dem Produzenten Eberhard Junkersdorf, dem Production Designer Nikos Perakis und mit Schlöndorff selbst.

„Die Blechtrommel“, eine Kinolegende. Der dreijährige Oskar, der beschließt, nicht mehr zu wachsen, weil er kein Spießer werden will und kein strammer Nazi. Die splitternden Scheiben, wenn er seine hohen Schreie ausstößt. Der Trommelschlag, der die Hitlerjugend aus dem Takt bringt. Die kaschubische Großmutter, die auf dem Kartoffelacker unter ihren Röcken einen Deserteur versteckt. Oskars Mutter, die zwei Männer liebt, einen polnischen und einen deutschen – bis sie nur noch öligen Fisch in sich hineinstopft und ihren Kummer nicht überlebt. Oskar mit Maria in der Strandkabine. Das Brausepulver in Kathi Thalbachs Bauchnabel. Die Aale, die sich aus dem Pferdekopf schlängeln (und vorher mit feinen Nadelstichen angenäht worden waren, wie Eberhard Junkersdorf auf der DVD verrät).

Schlöndorffs Verfilmung des Romans von Günter Grass hat sich ihre Bildgewalt bewahrt: mit dem forschen Auftreten des Dreikäsehochs David Bennent, der Anmut von Angela Winkler, der rheinischen Frohnatur Mario Adorfs, der Melancholie von Charles Aznavour. Bei der Hitlerei, den Liliputanern und den Aufnahmen des historischen Danzig. Danzig mit Patina, sagt Schlöndorff, im Vergleich zur heutigen Disney-Stadt. Polen hat ihn nicht losgelassen. Vor allem nach Danzig ist er immer wieder zurückgekehrt, etwa für seinen Solidarnosc-Film „Strajk“. Die deutsch-polnischen Beziehungsprobleme versteht er heute besser als damals.

Was ist nun anders in der Langfassung? Sie verankert Oskars Geschichte in der Zeitgeschichte, über Wochenschau-Einschübe vom Kriegsbeginn, der Landung in der Normandie oder der Flucht aus Ostpreußen – was eigentlich gar nicht nötig ist. Was den „Director’s Cut“ jedoch lohnt, ist die politische Zuspitzung und der größere surrealistische Touch. Mehr Irritation, mehr Momente, die den kaschubischen Ton konterkarieren. Etwa bei der russischen Orgie (mit Drehbuchautor Jean-Claude Carrière als Rasputin!) und vor allem bei der zauberhaften Himmelfahrt der Nonnen von Lisieux, nachdem sie beim Muschelsammeln am Westwall von den Nazis erschossen werden.

Vor allem gegen Ende gewinnt die neue alte „Blechtrommel“ an Dramatik, an Unversöhnlichkeit, auch wenn der Erzählrhythmus dabei etwas aus dem Takt gerät. Oskars Vater legt plötzlich Courage an den Tag, als die Lederjacken-Nazis seinen kleinwüchsigen Sohn ins Euthanasie-Programm stecken wollen. „Ich hab alles mitjemacht,“ tobt Mario Adorf, „aber das kommt nicht infrage.“ Ein Vatertier, das instinktiv das Richtige tut.

Seine neue junge Frau würde den Jungen lieber weggeben. Bislang war Katharina Thalbach als Maria eine Überlebenskünstlerin, die vor lauter Unglück früh verhärmt. Jetzt ist sie, im deutlichen Kontrast zu Alfred Matzerath, opportunistischer, ein fast mieser Charakter, eine Verräterin ihres Brausepulver-Liebhabers Oskar. Und dass der Blechtrommler beim Einmarsch der Roten Armee am Tod seines Vaters nicht unschuldig ist, erscheint nach dessen unerschrockenem Eintreten für den Sohn nun umso tragischer.

„Der Vater“, erklärt Schlöndorff, „war ein Mitläufer, bis der Nazismus bei ihm ankommt und das eigene Kind bedroht. Beim Gemüsehändler schlägt die Ideologie genauso zurück, wenn er als Homosexueller denunziert wird.“ Der Mann turnt im Kartoffelkeller gerne mit den Jungs aus der Nachbarschaft herum, harmlose Spiele. Jetzt ist die Szene hinzugefügt, in der Oskar entdeckt, dass der Händler sich aufgehängt hat. Vater und Sohn: David Benennt sieht, wie Heinz Benennt von der Decke baumelt, an einer De-Sade’schen Apparatur mit Kartoffelsäcken als Gegengewicht. Ein Fetisch-Schwuler, der sich mit seinen Neigungen nicht vor den Nazis zu retten wusste. Das ist weniger harmlos.

Befremdlich im lebensprallen Sittenbild von Krieg und Unfrieden im Kolonialwarenladen Matzerath sind die erotischen Derbheiten bei gleichzeitiger Prüderie für heutige Augen ohnehin. Berühmt ist die raffinierte Schnittfolge, als die junge Thalbach sich vor dem Kind auszieht, ohne dass etwas Kompromittierendes zu sehen wäre. So waren die Zeiten. Schon Grass’ Roman von 1960 war auch wegen solcher „Stellen“ beliebt.

Ebenfalls neu sind Szenen mit Herrn Fajngold, dem Überlebenden aus Treblinka. Im Rahmen der Umsiedlungsmaßnahmen wird ihm der Laden der Matzeraths zugesprochen. Als Herr Fajngold in der Vorortstraße auftaucht, wird er von seiner ermordeten Familie begleitet. Frau und Kinder als Schatten an der Hauswand. Die Nachkriegszeit, eine Geisterstunde.

Gedreht wurde die Danziger Straße übrigens in Berlin-Neukölln, in der Uthmannstraße. Eine Kulissen-Brauerei versperrte die Sicht auf die Karl-MarxStraße. Auf der DVD erzählt Production Designer Perakis eindrücklich vom Papierkrieg mit den Berliner Behörden.

Beim „Director’s Cut“ war die größte technische Herausforderung etwas vermeintlich Simples, die Tonspur. Die Bildnegative lagen nicht nur ungeschnitten im Lager, sondern auch stumm. Also wurde nachsynchronisiert. Angela Winkler hat immer noch ihre Mädchenstimme, auch Mario Adorf klingt wie früher, kein Problem. Aber Katharina Thalbach mit ihrem rauen Bass? Nun spricht Tochter Anna die Sätze der damals 24-jährigen Mutter. Und der erwachsene David Bennent erhält mittels Stimmengenerator wieder seinen Knabensopran.

Der 71-jährige Schlöndorff legt Wert darauf, dass er trotz der „Blechtrommel“-Aktion noch lange nicht zum Vorlass-Verwalter seines Werks zu werden gedenkt. An diesem Wochenende beginnt er mit dem Drehbuch für einen Afrika-Film, der komplett in Berlin spielen soll. Auf seinen Afrika-Reisen in den letzten drei Jahren – in Ruanda engagiert sich Schlöndorff bei einer Filmschule – war er wiederholt auf die Berlin-Konferenz angesprochen worden, die in Deutschland Kongo-Konferenz genannt wird. Ein guter Stoff, fand er: 1884 teilen elf Nationen den Kontinent mit dem Lineal auf, ohne dass ein Afrikaner anwesend ist – die Grenzen gelten bis heute. Als Damenprogramm gibt es Amazonen-Shows und Afrika-Bälle mit Schuhwichs-„Negern“ aus dem Wedding. Und Berater Henry Morton Stanley spaziert mit Tropenhelm und Elefantenbüchse Unter den Linden entlang. Eine „makabre Komödie“ schwebt Schlöndorff vor, er hofft, dass er sie 2011 als aufwändige internationale Produktion realisieren kann.

Als seine 18-jährige Tochter „Die Blechtrommel“ zum ersten Mal sah, letzte Woche auf der Münchner Premiere des „Director’s Cut“, fand sie den Film gruselig. Wegen der Aale?, fragte ihr Vater. Nein, wegen der Augen von Oskar. In ihnen flackert der Irrsinn jener Zeit. Etwas, das die Nachgeborenen bis heute verstört.

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