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Szene aus "Erotic Crises" von Yael Ronen.

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Maxim Gorki Theater startet mit "Fallen" und "Erotic Crises": Doppelpremiere zwischen Bett und Sandkasten

Am Berliner Maxim Gorki, dem „Theater des Jahres“, startet die Saison mit einem Doppelschlag – „Fallen“ von Sebastian Nübling und „Erotic Crisis“ von Yael Ronen.

Es soll ja tatsächlich noch Krisenzonen geben, die vom Theater bisher weitgehend unausgeleuchtet blieben. Zum Beispiel das Ehebett, das sich Yael Ronen – Fachfrau für komplexe Dilemmata – zur Feier des Saisonauftakts jetzt im Berliner Gorki vorknöpft. Konkret handelt es sich in ihrer Inszenierung „Erotic Crisis“ um ein mutmaßlich symptomverstärkendes Beischlafmöbel in aseptischem Weiß (Bühne: Magda Willi).

Hier hat man abendfüllende hundertzwanzig Minuten lang entweder schlechten Sex oder gar keinen: Kumari (Anastasia Gubareva) gesteht ihrem Freund Rafael (Aleksandar Radenkovic) nach mehreren Beziehungsjahren mit Tränen in den Augen, sich im Prinzip seit jeher so „unspezifisch“ von ihm „bearbeitet“ zu fühlen „wie eine kaputte Waschmaschine“. Und Jan (Thomas Wodianka) ist sich bereits selbst so unspezifisch abhanden gekommen, dass er auf dem weißen Spannbettlaken nur noch SMS zur bevorstehenden Akademiker-Konferenz „Feminismus fickt“ in sein Smartphone tippt, während das realfeministische Unglück seiner Freundin Maya (Orit Nahmias) neben ihm immer existenzieller wird. Zwischen diesen beiden Paaren bahnt sich regelmäßig die Single-Frau und hauptberufliche Hackerin Susan (Mareike Beykirch) ihren Weg an die Bühnenrampe, um ihr metropolencooles Partner-wechsel-dich-Image so selbstbetrugsfrei wie möglich mit dem tatsächlichen Gefühlshaushalt upzudaten.

So viel in Vorberichten zu „Erotic Crisis“ von den künstlerisch ja schon sattsam aufgearbeiteten Netzporno-Recherchen und Tantra-Workshop-Besuchen die Rede war, so wohltuend schlüpfrigkeitsfrei ist der Abend de facto geraten. Yael Ronen surft in ihrem wie immer gemeinsam mit den Schauspielern erarbeiteten Work-in-progress keine vermeintlich freakigen Erotomanen-Oberflächen ab, die man sowieso bestenfalls noch in Villingen-Schwenningen mit dem paarungswilligen Großstädter assoziiert, sondern beobachtet im Wesentlichen zwei stinknormale Paare beim ziemlich erwachsenen Versuch, ihre in die Jahre gekommene Beziehung zu retten. Wenn hier ein Tabu gebrochen wird, dann liegt das in der Schmerzbereitschaft, mit der sich das Krisen-Quartett dabei von dem Maßnahmenkatalog entfernt, den der boulevardeske Ehekomödienstadl, der wohlmeinende Beziehungsratgeber und das kulleräugige Liebesideal der landesweit über die Bühnen hüpfenden Käthchen und Gretchen in solchen Fällen zu empfehlen pflegen.

Das Tanztheater „Fallen“ von Sebastian Nübling und Ives Thuwis am Gorki-Theater.
Flieger in der Nacht. Das Tanztheater „Fallen“ von Sebastian Nübling und Ives Thuwis ist Teil des Saisonstarts am Gorki-Theater. Hauptakteur Open Air: 70 Tonnen Sand.

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Yael Ronen lässt Sex-Stereotype ineinander crashen

Dass sich Yael Ronen dabei selbst immer wieder betont komödiantisch von Klischees abstößt – die Zartfühlende, die sich nicht artikulieren, sondern nonverbal erkannt werden will oder der Macher, der die Orgasmusqualität seiner Partnerin genauso pflichtschuldig im eigenen Leistungsspektrum verortet wie die Performance in der Firma – gehört zur Methode: Seit ihrem bahnbrechenden Abend „Dritte Generation“ mit israelischen, palästinensischen und deutschen Schauspielern vor fünf Jahren an der Berliner Schaubühne lässt die 1976 in Israel geborene Regisseurin dezidiert schonungsfrei Stereotype ineinandercrashen, hinter denen sie dann zu Schmerzpunkten vordringt, die tatsächlich nicht viele Regisseure erreichen. Das mehr oder weniger verfremdete Material speist sich immer auch aus den persönlichen Hintergründen der Schauspieler.

Dass der Erkenntnisgewinn diesmal deutlich geringer ausfällt als bei den vorzugsweise politischen Abenden – etwa der komplexen Auseinandersetzung mit den Kriegen in Ex-Jugoslawien „Common Ground“ letzte Saison am Gorki – dürfte in der Natur des Sujets liegen. Dennoch: Das multiethnische Theater, das es in der jährlichen Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ vom Start weg in seltener Souveränität zum „Theater des Jahres“ schaffte, geht mit nahtloser Vitalität in die neue Spielzeit: Die zweite Uraufführung des Saisoneröffnungsdoppelpacks – Sebastian Nüblings gemeinsam mit dem Choreografen Ives Thuwis entwickeltes Tanztheater-Projekt „Fallen“ – hat jedenfalls schon jetzt gute Chancen auf den physischsten Theaterabend der Saison.

Zehn Jungs gegen 70 Tonnen Sand

Zehn junge Männer – teils Ensemblemitglieder, teils Gäste – führen hier in einem weithin deutungsoffenen Mega-Sandkasten Männlichkeitsrituale, Gewaltexzesse, gegenständliche körperliche Ausbremsungstaktiken und die Dialektik von Gruppen- und Individualdynamik vor. Siebzig Tonnen Sand hat Bühnenbildnerin Muriel Gerstner auf dem Gorki-Vorplatz für diese Open-Air-Veranstaltung aufschütten lassen, die mit einem fast „Sportstück“-verdächtigen Intro beginnt: Gefühlte Stunden joggt der Jungstrupp unter den Augen des Publikums, das im Viereck um den Sandkasten sitzt, hin und her.

Dass man dabei nicht nur das choreografische Geschehen, sondern auch die Zuschauer-Kollegen vis-à-vis ständig im Auge hat, ist durchaus intendiert: Die Unmittelbarkeit, gelegentlich auch offensive Plakativität legt die Vermutung nahe, dass es hier mehr um unsere Projektionen vom männlichen (Gewalt-)Status quo geht als um selbigen an sich. Und besonders subtil sind die – wenn man Nübling und seinen eindrucksvoll aktionistischen Darstellern glaubt – eben nicht: In einer veritablen Verausgabungsperformance springt, ringt und kickt man sich gegenseitig zu Boden, wobei der aufgewühlte Sand absichtsvoll um die Zuschauerohren fliegt, oder ergeht sich – nach je realistischer Möglichkeitseinschätzung – in indivualstrategischem Posing: Einer boxt (ego)manisch in den Sand, der nächste sucht Publikumskontakt, indem er sich wechselweise neckisch die nackte Brust und den teilentblößten Hintern beklopft.

Auch, wenn „Fallen“ also die Dichte des anfänglichen „Sportstück“-Bildes leider schnell verliert und ins allzu Naheliegende driftet: Diese zwischen Bett und Sandkasten gestartete Gorki-Saison verspricht schon deshalb spannend zu bleiben, weil sich die künstlerischen Untersuchungsfelder immer weiter öffnen. Und wegen der Schauspieler sowieso.

„Erotic Crisis“ wieder am heutigen Montag sowie am 19. und 20.9., 19.30 Uhr; „Fallen“ wieder am 16., 17. und 19.09., 20.30 Uhr

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