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Kultur: Draufhalten und durchhalten

Reporter, Polizisten und eine Marienerscheinung: Dokus zur Arabellion im PANORAMA & SPECIAL.

Mitten in der wogenden Menge bewegt sich die Kamera über die Qsr el-Nil-Brücke auf den Tahrir-Platz zu. In „Reporting … A Revolution“ und anderen Filmen über den Aufbruch in Ägypten taucht man auf großer Leinwand noch einmal in die überwältigende Macht der Ereignisse des vergangenen Jahres ein. Im entfesselten Strom, der aus Kairos Vorortdistrikten ins Zentrum drängt, schwimmt man mit, erlebt, wie die Massen gut gelaunt, unbewaffnet und ekstatisch ihre machtvolle Präsenz genießen. Im Taumel der Bilder gerät man in die Angriffe der Polizei, wird an vorderster Front von Panik, Entsetzen über die Gummigeschossattacken und Tränengaswolken überwältigt und voll hochpathetischem Schmerz direkt in die Kamera hinein zum Zeugen der brutalen Verwundungen angerufen.

Szenen wie der archaische Angriff der Kamelreiter sind zu bekannten Emblemen der Revolution geworden, denn damals bedienten sich alle Medien der ins Netz gestellten Bilder junger ägyptischer Kamerareporter. Jetzt setzen erste Selbstreflexionen, schnell gedrehte Tagebuchfilme den Dabeigewesenen ein heroisches Denkmal. Es geht um die jungen Reporter persönlich, ihre Erlebnisse, ihr riskantes Engagement, um Beweise für den staatlichen Terror gegen das Volk zu dokumentieren. Für künstlerisch verdichtete, mit Hintergrundrecherchen gespickte Filme zu unerwartet neuen Aspekten ist es vielleicht noch zu früh.

„Reporting … A Revolution“ (Bassam Mortada), der in der Special-Reihe läuft, lässt ein Team junger Journalisten und Journalistinnen der unabhängigen Kairoer Zeitung Al-Masry Al-Youm an Straßenecken resümieren, was sie erlebten und wie sie mit dem Rollenkonflikt fertig wurden, „draufzuhalten“, während sie vor Angst, Schrecken und Übermüdung an den Rand ihrer Kräfte gerieten. „Words of Witness“ (Mai Iskander), ein weiterer mittellanger Dokumentarfilm des Panorama-Programms zum Schwerpunkt „Arabellion“, macht Heba Afify, eine junge Journalistin der englischsprachigen Ausgabe von Al-Masry Al-Youm, zum Star. Die in den USA geborene Filmemacherin Mai Iskander kehrte im Januar 2011 in die ägyptische Heimat ihrer Eltern zurück und porträtierte mit Notizblock, Handykamera, Twitter und Facebook operierende Nachwuchsreporterin Heba bei ihren Einsätzen in den Straßen von Kairo.

Auch das dritte Kriegsberichterstatter- Porträt „The Reluctant Revolutionary“ lebt von sehr persönlichen Einblicken in den Aufstand gegen den Diktator Saleh im Jemen. Der irische Dokumentarfilmer Sean McAllister schildert seine enger werdende Freundschaft mit dem jemenitischen Touristenführer Kais, einem fünfunddreißigjährigen Familienvater, der gegen die drohende Pleite ankämpft, denn angesichts der Kämpfe in der Hauptstadt Sanaa bleiben die Gäste aus. McAllister wird, seine Digitalkamera auf Augenhöhe, in die diffuse Unsicherheit der Männergesellschaft um Kais hineingezogen. Als westlich orientierter, mit trockenem Sarkasmus begabter Beobachter zweifelt Kais am Aufstand und fürchtet die Einmischung der schwer bewaffneten Stämme zugunsten Salehs. Andererseits verdient er mit dem Einschleusen des Reporters in die Zeltlager der Rebellen in Sanaas Zentrum wenigstens Geld. Die Kamera hält unmittelbar fest, wie sich der skeptische Kais unter dem Eindruck brutaler militärischer Gewalt zum Befürworter des Umsturzes wandelt.

Die jemenitischen Frauen sind in lautstarken, schwarz verschleierten Gruppen in McAllisters Film präsent, wenn auch als Parallelwelt zur Sphäre seines Protagonisten Kais. Ohne die Frauen ist die „Arabellion“ nicht denkbar und so artikulieren die ägyptischen Filme das Zentnergewicht der Emanzipationsproblematik, wie es sich aus Sicht der Frauen darstellt.

Heba Afify, die sprachgewandte Journalistin in „Words of Witness“ bringt ihrer Mutter die Tricks der richtigen Facebook-Nutzung bei, aber die gesamte Familie versucht, sie von der Teilnahme an Protestaktionen und Reportagen in unsicheren Distrikten der Stadt abzuhalten. Die professionelle Ambition der jungen Frau, in der Öffentlichkeit aktiv zu sein, stößt fundamental mit dem Ehrbegriff der Familie zusammen.

Hana Abdalla, mit 23 Jahren die jüngste Festival-Regisseurin, kehrte für ihr Frauenporträt „In the Shadow of a Man“ ebenfalls aus dem Exil ihrer Eltern nach Ägypten zurück. Die in London geborene Filmemacherin befragte im Jahr der Revolution Protagonistinnen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zu ihren Erfahrungen und Veränderungswünschen. In der Boutique einer unverheiratet lebenden jungen Geschäftsfrau berichten verschleierte Kundinnen unter anderem über ihre Träume, eigenes Geld zu verdienen. Eine Bäuerin resümiert, dass sie trotz eines Universitätsdiploms als Mutter, Landarbeiterin und desillusionierte Ehefrau in der Falle zu sitzen glaubt. Eine humorvolle Greisin, die als Waschfrau in Dubai gutes Geld verdiente, erzählt von den demütigenden Bräuchen, mit denen in der Hochzeitsnacht die Jungfernschaft ägyptischer Bräute kontrolliert wird. Der Form nach ein konventioneller Porträtfilm, gelingt es „In the Shadow of a Man“ dennoch, erstaunlich offen zu vermitteln, welche ungeheure Veränderungsenergie die Frauen in Ägypten, auch die vermeintlich konservativen bewegt.

„La Vierge, les Coptes et moi“ (Namir Abdel Messeeh), ein quasidokumentarischer Spielfilm, spielt auf die revolutionären Ereignisse an, reagiert jedoch als einziger Film des Schwerpunktprogramms mit skurriler Intelligenz auf die wechselseitigen Erwartungen, die Medien in Ägypten sowie beim westlichen Publikum auslösen. Der Filmemacher, ein in Paris aufgewachsener junger Ägypter mit säkularem Weltverständnis, aber großer Nostalgie, fährt in die koptische Heimat seiner Mutter, um einen Film über Marienerscheinungen zu drehen. Sprechen die Kugelblitze auf alten Videos nun für das Wunder oder nicht? Geld bekommt der wunderbar naiv-eigensinnige Jungfilmer von seinem Produzenten nur, wenn er das Marien-Ding passend für den Pariser TV-Geschmack mit der Revolution in Kairo überblendet. Die rechthaberische Mama managt die Katastrophenproduktion. Zu helfen weiß sich Namir, indem er die Dörfler überzeugt, einen Auftritt der Muttergottes für die Kamera zu inszenieren. Namir Abdel Messeeh gelingt ein pointenreiches Stück Cinéma vérité, das erzählt, wie die Moderne im ländlichen Ägypten Einzug hält, ohne zerstörerisch zu wirken.

Ein Jahr nach dem Umsturz träumen ägyptische Frauen noch immer von mehr Freiheit

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