zum Hauptinhalt
Leben im Stillstand. Lisa Webers intime Milieustudie „Jetzt oder Morgen“.

© Takacs Filmproduktion

Duisburger Filmwoche im Kino Arsenale: Sehnsüchtige Teenager, depressive Arbeitslose und trauernde Freunde

Das Arsenal präsentiert die Duisburger Filmwoche. Dieses Mal widmet es sich vor allem marginalisierten Lebensrealitäten.

Als das Wünschen noch geholfen hat: So könnte man die Geschichte von Carmen überschreiben. Die sechzehnjährige Protagonistin von Elfie Mikeschs Debüt „Ich denke oft an Hawaii“ (1978) lebt in der Westberliner Gropiusstadt, die Mutter arbeitet als Putzfrau, der Vater hat sich davongemacht. Der Eintönigkeit entflieht Carmen mit Träumen von einer großen Liebe und Sonnenuntergängen am Palmenstrand, ihr Zehn-Quadratmeter-Zimmer hat sie im Kopf bis ins kleinste Detail umgestaltet. Ihre Wunschmaschine ernährt sich von selbst: „Es ist immer so, dass ich einen Wunsch habe, den ich nicht erfüllen kann, wo ich aber die Hoffnung nicht aufgebe, und ich versuche den Wunsch durch etwas anderes zu vergessen, aber er wird immer wiederkommen.“

Mikesch gibt den Fantasien des Teenagers eine filmische Realität. Zu den sanften Klängen hawaiianischer Musik – eine Hinterlassenschaft des Vaters, einem US-Soldaten aus Puerto Rico – pritschelt sie mit entrücktem Blick im Schaumbad des Spülbeckens und putzt trancehaft das Fenster. Oder sie verwandelt sich in eine Kunstfigur, die in ihren schillernden Roben und dem stilisierten Makeup direkt aus einem Hollywood-Stummfilm kommen könnte. Wobei ihr verrutschter Glamour auch an das queere Undergroundkino eines Jack Smith erinnert. „Ich denke oft an Hawaii“ zeigt, wie vielseitig sich der Wirklichkeitsbegriff des Dokumentarfilms interpretieren lässt und ist zudem ein Beispiel für die so kreative wie empathische Zusammenarbeit einer Filmemacherin mit ihrer Protagonistin.

[Vom 20. bis 22. Januar im Arsenal]

Zu sehen ist der Film im Kino Arsenal im Rahmen einer dreitägigen Reihe, die den diskursiven Anspruch der Duisburger Filmwoche ein wenig anders auslegt. Neuere Arbeiten, die bei dem Dokumentarfilmfestival liefen, werden mit älteren Beiträgen aus der 45-jährigen Festivalgeschichte in Beziehung gesetzt. So ruft Carmens „Man sollte sich mit etwas beschäftigen können“, direkt in die Gemeindebauwohnung in Wien-Simmering hinein, Schauplatz von Lisa Webers intimer Milieustudie „Jetzt oder Morgen“ (2020). Im Zentrum steht Claudia, eine Anfang Zwanzigjährige ohne Schulabschluss und Beschäftigung, die mit ihrem vierjährigen Sohn, dem Bruder und der Mutter in einem Zustand lähmender Stasis festsitzt. Das Wünschen hat die Annahme eines sozialen Determinismus erstickt, die Tage schleppen sich dahin, die Jobsuche wird aufgeschoben. Allein wenn Whitney Houstons und Mariah Careys Ballade „When You Believe“ durch die Wohnung schallt scheinen die erschlafften Körper vitalisiert – „There Can Be Miracles“.

Marginalisierte und vermeintlich abseitige Lebensrealitäten und Gefühle bilden den gemeinsamen Stoff der Filme, die das Arsenal und Alexander Scholz, der neue Leiter der Duisburger Filmwoche ausgewählt haben. Jan Soldat porträtiert in „Wohnhaft Erdgeschoss“ (2020) einen Mann, dem es gefällt, auf sich, in sein Bett und auf den Boden seiner Wohnung zu pinkeln. Heikos Erzählung, in statischen Bildern dokumentiert, skizziert eine Biografie, die mit persönlichen Beschädigungen wie systemischen Verwerfungen zu tun hat - nach der Wende gab es für den Metallarbeiter keine Jobs mehr. Auf Psychologisierungen will der Film aber gerade nicht hinaus. Soldats Neutralität, die gleichwohl von Neugierde motiviert ist, schafft einen Raum, in dem man eine eigene Haltung zu finden hat.

Autobiografische Perspektiven und eine obsessive Fixierung verbindet die dritte Korrespondenz. Wo Jan Peters „Dezember, 1-31“ von 1998 mit hibbeliger Energie den Tod seines Freundes betrauert und dabei gierig Begegnungen, Videobilder und Träume sammelt, beißt sich Naama Heiman in „Picnic at Hanging Rock“ (2021) an ihrem begehrten Objekt, Mitbewohner Biniam, fest. Die Zurückweisung und der Schmerz finden in einer Bekenntnisrhetorik Ausdruck, die so neurotisch wie komisch ist – und sich gerade in der Offenbarung vermeintlicher Schwäche ermächtigt.

Esther Buss

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false